Biedermannweg – der Name ist Programm. Wenn man an den gepflegten und alten Häusern dieser Berliner Straße entlangläuft, hat man sie direkt vor Augen, die Rühmanns und Pfitzmanns dieser Stadt. Das alte Westberlin in Reinkultur. Man sieht diese Schauspieler vor sich, wie sie in ihre alten Mercedesse einsteigen und nach Babelsberg fahren, um dort zu Dreharbeiten anzutreten.
In dieser Straße im Bezirk Ruhleben wirkt nichts versnobt oder neureich. Sie wirkt, wie eine elegante, ältere Frau. Wie die berühmten Wilmersdorfer Witwen aus Berlins Erfolgsmusical „Linie 1“. Ein wenig aus der Zeit gefallen für eine so hektische und boomende Stadt wie Berlin.
Ich habe einen Termin in dieser Straße. Bei einem Rechtsanwalt. Nun sind Anwaltstermine in den seltensten Fällen angenehmer Natur. Erst recht, wenn es sich um einen Scheidungsanwalt handelt.
Wir sitzen im Garten seines Hauses. Eins dieser typischen Häuser im Biedermannweg. Der Anwalt raucht gerne. Ich, zumindest zu dieser Zeit, ebenfalls. Als all die unangenehmen Dinge besprochen waren, gehen wir durch den Garten in Richtung Tor. „Der Herr Anwalt begleitet seine Klienten noch zur Tür“ denke ich. Er passt gut zu dieser Straße.
…
Ich werfe noch einen Blick in den Garten mit dem altem Baumbestand. Er wirkt nicht sonderlich gepflegt. Was gar nichts macht. Haufenweise Spielzeug leuchtet aus den verwilderten Ecken. Drei Kinder werden hier groß. Die Schaukel, die an einem der alten Bäume hängt steht nicht still, obwohl die Kinder gar nicht da sind am heutigen Vormittag. Es ist ein schöner Garten. So einen, wie man ihn sich wünscht, wenn man in das Alter kommt, in dem eine Familie und Kinder das Allerheiligste darstellen.
Ich erblicke eine Holzbank. Sie sieht selbstgefertigt aus. Auf jedenfall ist sie alt. Sehr alt. Was gleich ins Auge sticht ist ein goldenes Messingschild, dass an der Rückenlehne prangt. Ich gehe näher ran und lese:
„Ruhig leben seit 1936“.
Bumm. Was war das? Die Antwort ließ mich aufhorchen.
Das Haus wurde Anfang des vergangenen Jahrhunderts von einem jüdischstämmigen deutschen Ehepaar erbaut. Er war wohl Ingenieur. Zumindest machte er „etwas mit Technik“ erinnert sich der Anwalt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entschloss sich dieses Ehepaar nicht zur Flucht, sondern vermietete ihr Haus an Freunde und versteckte sich im Keller desselbigen.
Sie überlebten den Holocaust versteckt im Keller ihres eigenen Hauses. In lauen, warmen Sommernächten traute sich das Ehepaar das, wie ich später erfuhr auch eine kleine Tochter hatte, in den hinteren, kaum einsehbaren Teil des Gartens. Sie setzten sich im Mondlicht auf diese Bank. Und irgendwann, in all den Jahren des Wartens, hat der Ehemann dann wohl dieses Schild gefertigt.
Der Anwalt erkennt, dass mich diese Geschichte fesselt. Er erzählt weiter (ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir in der Zwischenzeit schon wieder vor seinem Haus standen).
„Kommen Sie, ich zeige ihnen etwas“.
Wir gehen rein und er zeigt mir, Glocken, Notfall-Glocken.
Der Ehemann hatte das ganze Haus mit einem ausgeklügelten Warnsystem ausgestattet. Unter vielen Fensterbänken waren, für das Auge kaum sichtbar, kleine weiße Klingelknöpfe angebracht. Und immer wenn die Freunde im oberen Teil des Hauses sahen, dass die Gestapo, ein Polizeiwagen oder auch nur Fremde sich auf der Straße blicken ließen, wurden im Haus die Klingelknöpfe betätigt und im Keller läuteten kleine Glöckchen. Das Ehepaar wusste in diesem Moment, dass nun Stille ratsam war und verzog sich in einen kleinen Raum, nicht mehr als ein fensterloses Kabuff, vor dessen Eingang sie ein Bücherregal schoben.
Besuch von der Gestapo gab es natürlich. Die deutsche Gründlichkeit hat niemanden vergessen. Die Freunde haben dann immer gesagt, dass das Ehepaar geflüchtet sei.
Sein Beruf rettete dem Ehemann und seiner Familie das Leben, denke ich.
Zwei Jahre ist mein Besuch im Biedermannweg nun her. Die Geschichte ließ mich nicht in Ruhe.
Mein Anwalt hatte auf mein Nachfragen noch den Kontakt zur Vorbesitzerin gefunden, von der er das Haus gekauft hatte. Ich rufe sie an. Sie stellt sich als Pharmazeutin vor und lebt inzwischen in Braunschweig. Viel wüsste sie nicht mehr sagt sie, nur, dass sie etwa 1981 das Haus von der Tochter des Ehepaares gekauft hat. „Es war ein kurzer Termin. Die Tochter kam aus Israel eingeflogen, unterschrieb den Verkaufsvertrag und flog sofort nach Israel zurück.“
Je mehr mir die Pharmazeutin am Telefon erzählt, desto mehr scheinen sich die Erinnerungen zu lösen. „Im Keller gab es eine Badewanne und eine Toilette. Und das kleine Kabuff. Der Raum, in den man dann flüchtete, wenn Gefahr drohte. Er war winzig und fensterlos. So klein, dass gerade mal ein Bett reinpasste.
Irgendwann, nach dem Kauf, haben mein Mann und ich den Garten gerodet“ erzählt sie. „Als ich dann, mit meiner Harke zwischen meterhohen Johannisbeersträuchen arbeitend plötzlich an etwas stieß und ein metallisches Geräusch vernahm. Es waren Rohre. Luftrohre die genau in das kleine Kabuff im Keller führten.“
Der Ingenieur hatte an alles gedacht.
Ich frage sie, ob sie wüsste, was aus dem Ehepaar nach dem Krieg geworden sei. Nein sagt sie. Nur irgendwann Ende der 80er Jahre klingelte es plötzlich bei ihr. „Eine kleine, alte, sehr zart anmutende Frau stand da. Sie sagte, sie hätte in diesem Haus mal gelebt und ob sie es sich noch ein Mal anschauen dürfe.“
Die Stimme der Pharmazeutin bekommt am Telefon einen neuen Ton.
„Diese alte Frau schritt über die Türschwelle, und war in IHREM Haus. Es war bemerkenswert. Obwohl ich ja inzwischen hier wohnte, zeigte mir die alte Dame IHR Haus. Wir gingen gemeinsam durch die Räume und voller Stolz beschrieb sie jedes Zimmer. Es war ein sehr kurzer Besuch, nicht länger als 20 Minuten. Aber es war klar, für diesen Zeitraum war es nicht mein Haus, es war ihr Haus gewesen.“
An viel mehr könne sie sich nicht erinnern, es sei ja alles schon so lange her. Ich bedanke mich für das Telefonat und lege auf.
Wer war dieser Mann? Er muss die Jahre nach 1933 genau beobachtet haben. Irgendwann fing er dann an, den Keller mit sanitären Anlagen auszustatten, Luftrohre zwischen den Wänden zu verlegen, ihren Ausgang draußen geschickt hinter stacheligen Beerensträuchern zu verbergen. Dann lies er sich für das ganze Haus dieses Alarmsystem einfallen, verlegte die Kabel von jedem Klingelknopf unter fast jedem Fenster in den Keller zu den Glöckchen. Besprach sich mit Vertrauten, die dann oben im Haus einzogen. Und rettete so sich, seiner Frau und der kleinen Tochter das Leben. Irgendwann, als er gemerkt haben muss, dass dies alles funktionierte bringt er dann das kleine Messingschild an die alte Holzbank an. Und zeigt so den Nazis den bemerkenswertesten Stinkefinger den man sich nur vorstellen kann: „Ruhig leben seit 1936“.
Björn Casapietra – Lied für einen besten Freund
„Lied für einen besten Freund“ – Björn Casapietra Album „VERFÜHRUNG“, gefilmt im Botanischen Garten München
MusiK: Alexander/Kaxe/Ellmer, Lyrics: Björn Casapietra
Ich lese diesen Text meiner siebenjährigen Tochter vor. Sie sagt: „Papa. Der war wirklich schlau.“
Fast 10 Jahre müssen sie in dem Keller verbracht haben. Wie haben sie ihrer kleinen Tochter erklärt, dass sie im Sommer nicht raus kann, nicht baden gehen, nicht im Garten spielen, im Winter nicht im Schnee toben darf?
Ein kleines Messingschild auf einer kleinen alten Holzbank verhöhnte auf unnachahmliche Weise die nach versteckten Juden suchenden Nazis.
Ich rufe die Pharmazeutin noch einmal an. „Warum haben sie eigentlich damals 1981 genau dieses Haus für sich und ihre Familie ausgesucht“ frage ich.
„Nun“ sagt sie, „wir, mein Mann und ich hatten uns damals viele Häuser angesehen. Und obwohl wir die Geschichte noch gar nicht kannten, hatten wir bei diesem Haus sofort das Gefühl, dass es unter einem guten Stern stand.“
Björn Casapietra
Weiterführend
- Björn Casapietra in der deutschen Wikipedia
- Björn Casapietra Homepage
(Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, diesen Text den Lesern dieser Website zur Verfügung zu stellen.)