1594/12: Erfahrungshorizonte: Ist alles Schicksal, mehr oder weniger! #Das Methusalem-Kompott

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Die ewige Philosophiefrage: Hat man Krebs gehabt und nun nicht mehr? Oder eher einmal Krebs, immer Krebs? Antwort darauf kann ich mangels persönlicher Erkrankung dazu nicht geben. Gott sei Dank. Andere erzählen mir davon. Ich höre zu, aus beruflichen und auch aus inhaltlichen Gründen. Es interessiert mich sehr. Ich bin dann immer ganz gefühlig. Und denke, wie gut es mir doch geht, unter allen aufsummierenden Strichen! Aktiva und Passiva meines Lebens stimmen überein. Noch. Hoffnung, dass das so bleibt.

Sissy (* Name geändert), Baujahr 1959 und ich, Baujahr 1962, kennen uns schon eine ganze Weile. Vielleicht seit 1998. Wir sind beim „Du“. Damals übernahmen wir dieses Haus in Berlin-Wedding im Afrikanischen Viertel von einem Vorverwalter, der heute froh ist, das Haus nicht mehr verwalten zu müssen. Geschichte. Heute telefoniere ich mit ihr. Aus gegebenem Anlass. Dämliche Worthülsen. Inhaltsleer.

Sissy hat Lymphdrüsenkrebs gehabt, sagt sie mir ganz klar schon ziemlich am Anfang unseres Telefonats.

Man sollte auf alles achten, denn man kann alles deuten. – Hermann Hesse, gestorben heute vor 50 Jahren.

Mit der Chemo ist sie „durch“, aber jetzt ist sie so „saft-und kraftlos“. Keine Kraft mehr. Ihre Mutter Lilly (* Name geändert), Baujahr 1932, jetzt 77 Jahre alt, ist schon 2010 in unserer Hausverwaltung als „Methusalem“ geschlüsselt worden. Schreckliches Wort, schreckliche Begriffe. Idiomatik. Idiotik.

Schlaganfälle. Jetzt ist Mutter Lilly halbseitig gelähmt. Ihr Sprachzentrum hat Schaden genommen, eine globale Aphasie. Sie sagt wieder Worte, die sie neu erlernt. Wörter sind wie Schubladen in einem großen Schrank voller Schubladen, die Schubladen sind der Sprachschatz, der Wortumfang. Nicht wenige Schubladen klemmen so, wie in dem Film „Ödipussi“ die Schubladen der Anrichte klemmen. Loriot muss sie erst ruckelnd aufziehen, das ist komisch. Weniger komisch ist die Wohnzimmeranrichte von Lilly, die jetzt halbseitig gelähmt ist. Das findet niemand mehr komisch. Denn es ist tragisch.

„Fällt dir das Leben zu schwer, dann denke an den Clown, der in seinem Herzen weint und dennoch lachend Geige spielt, um so die Menschen von den Tränen ihres Herzens zu heilen. Das Geheimnis des Clowns liegt in einer tiefen, unsagbaren Trauer. Der Clown weiß, was für unermeßliches Leid es für viele ist, zu leben.“ © Phil Bosmans

Der Kopf ist klar, aber die Zunge kann nichts davon erzählen. Der Kopf nimmt diese totale Behinderung allerdings unverzerrt wahr. Da ist nichts zu beschönigen.

Deswegen: Mutter Lilly wohnt jetzt schon längere Zeit bei Pro Seniore im Altersheim am Hackeschen Markt. Die haben auch einen schicken Internetauftritt. Da lächeln die alten Menschen so nett von der Homepage herunter. Was im Grunde genommen der Wirklichkeit völlig egal ist. Die Zielgruppe guckt das Internet nicht an. Solche Homepages werden auch nicht seniorengerecht programmiert, in einem „alten“ Geist des Flusses und der Kohärenz. Das wäre zu viel des Guten. So wie alles andere auch zu viel des Guten ist. Die Webseiten solcher Einrichtungen werden für die Nachrücker erstellt, für die Kinder der Alten, die jetzt entscheiden müssen, wo es Mami bzw. Papi gut geht.

Wir haben das delegiert. Kümmern uns um diese Seite der Medaille nicht mehr. Die Alten werden in Einrichtungen verbracht, wo sie dann Endzeit fristen. Weil unser eigenes Leben so busy ist, so beschäftigt. Oder weil wir selbst Krebs haben und kurz vor dem Sterben sind. Darauf erst mal eine rauchen. Untertage quarzt es sich besser als über Erdgeländeniveau, aufrecht stehend, dem Leben entgegensehend.

Die Kosten für die Eigentumswohnung von Mutter Lilly sind jetzt so hoch. Es waren schon länger 295,- € pro Monat Wohngeld. Aber man kann doch so eine Apanage einkürzen, wenn jemand da nicht mehr drin wohnt. Vielleicht die Zahlungen jetzt einstellen? „Ich will nicht, dass die Wohnung zwangsversteigert wird,“ sagt Sissy. „Ich darf Eigentümern aus Rechtsgründen nicht erlauben, die Zahlungen einzustellen,“ sage ich. Ich taste mich langsam und vorsichtig heran an diese Frage, wie man das löst. Ich weiß es ja selbst nicht. „Dann zieh schnell ein,“ schlage ich vor. Die andere Wohnung aufgeben, einfach einsparen. Sissy sagt, ihr fehlt jetzt die Kraft. Einerseits muss sie dringend Geld sparen. Andererseits hat sie nicht das Geld, in diesen Zustand hinüber zu „diffundieren“. Zwei Wohnungen renovieren und soweit fertig machen, dass die eine abgegeben werden kann. Der Vermieter möchte bestimmt Schönheitsreparaturen geltend machen. Die Wohnung von Mutter Lilly müsste auch „halbwegs“ renoviert werden. Zwei Wohnungen, halbwegs ordentlich renovieren, ja aber wovon denn?

Wir unterbrechen unser Gespräch. Für heute. Wir brauchen beide eine Pause. Und Nachdenkzeit. Wir werden in einer Woche wieder telefonieren. Ich habe den Verwaltungsbeirat sachgerecht informiert. Wir werden uns ebenfalls austauschen. Ein guter, gemeinsamer Geist soll über diesem Mehrfamilienhaus wehen, nehme ich mir vor. Irgendwas ist immer, irgendwas wird gelingen.

 

(EP)

 

 

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