Hinter dem Phänomen »fremdschämen« steht ein Einfühlungsprozess, in dem eine Person A sich an Stelle einer anderen Person B schämt. Person B ist sich der schämenswerten Situation nicht bewusst, Person A aber durchaus. Aus dieser peinlichen Berührtheit für die Situation, in der Person B sich unwissend befindet, schämt sich Person A also stellvertretend für diese. Hierbei soll der Akt des Fremdschämens nicht als eine altruistische Leistung angesehen werden. Stattdessen fühlt sich Person A eher unfreiwillig beschämt, da solche Situationen meist aus dem sozialen Rahmen fallen und erst dadurch die Fremdscham ausgelöst wird. Wichtig ist, dass das Phänomen der Fremdscham kein (teil-)automatisierter Prozess ist, so wie es bei der klassischen empathischen Einfühlung ist. Bei letzter greifen verschiedene Bewusstseinsstufen ineinander: von der rein biologischen, unvermittelten, unbewussten Aktivierung einfühlender Spiegelneurone bis hin zum bewussten internen Nachspielen von gesehenen sozialen Situationen inklusive ihrer Bedeutungsdimension. Fremdscham ist genau so ein Nachagieren, ist also immer ein bewusster Prozess, in dem Brüche zum sozial Verhandelten, dem sozial »Normalen« und damit der Norm festgestellt und deren Konsequenzen prospektiv durchlebt werden.“ (Quelle: Nadia Zaboura, Kommunikationswissenschaftlerin, Buch „Das empathische Gehirn„)
So weit, so gut. Rechtsanwalt Hoenig berichtet hier sinngemäß von folgendem:
Beispiel 1 für Fremdschämen: Ein Staatsanwalt will -summa summarum- sieben Anklageschriften verlesen und findet sechs davon nicht. Er benötigt ‚Überstücke‘, das sind Kopien der Anklageschriften, die aus organisatorischen Gründen in der roten Strafakte ‚zur freien Verfügung‘ für schusselige Staatsanwälte liegen. Unterhaltungswert des Berichts ‚Hier herrscht Ordnung‚ sehr hoch.
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Beispiel 2 für Fremdschämen: Die Tochter ihres Vaters, Hannelore Hutschenreuther (* Name geändert), fährt wie jeden Morgen zur Arbeit. Die Straße, in der sie wohnt, ist eng. Es handelt sich um ein reines Wohngebiet, ausschl. bestehend aus Ein- und Zweifamilienhäusern. Die Straße ist definitiv zu eng für den Fall, dass zwei Fahrzeuge aufeinander zu und aneinander vorbei fahren können. Sie wird schon von weitem ‚glasklar‘ gesehen. Der Nachbar aus dem Erdgeschoss fährt ihr entgegen. Wie in der Straße in dieser Situation üblich, fährt in diesem Fall er, nicht sie, rechts ran und gibt zum Zeichen freier Fahrt ‚Lichthupen‘-Signale. Das versteht sie. Sie passiert den Nachbarn, der das Fenster heruntergekurbelt hat. Der Nachbar streckt den Arm aus dem Fenster und macht mit der flachen Hand ein paar zärtliche Winkbewegungen. Es sind nicht ‚Bewegungen der Zuneigung‘. Es sind eher Winkbewegungen allen anderen Umständen zum Trotz. Sie erschrickt. Fährt schnell vorbei. Es ist viel vorgefallen zwischen ihren Eltern, ihrem Bruder und diesem winkenden Nachbar, der nicht geliebt wird. Er ist eher so eine Art Rotzlöffel, finden sie. Sie fühlt sich zur ‚Salzsäule erstarrt‘, und huscht nun so schnell als möglich vorbei, unfähig eine auch nur kleine Geste des Dankes zu streuen. Fremdschämen.
Beispiel 3 für Fremdschämen: Er ist gerade im Schlafzimmer am Kleiderschrank, als ein ‚red scorpion‘ anrollt. Wenn sie kommt, denkt er, dann gibt es was zu gucken. Und die Vermutung erweist sich auch als richtig. Gut, sie wohnt hier nicht mehr, aber in der letzten Zeit war sie häufig hier. Sie hat konkrete Anliegen. Da ist sie immer beschäftigt. Sie ist dieser Tage so was wie der treibende Kalfaktor. Aber heute ist das merkwürdig. Alles in allem ist ihre Anreise ungefähr drei Minuten lang, inklusive Abreise. Zunächst tapst sie stolpernd auf die Vorgartenfläche. Und dann schaut sie -sich auf Zehenspitzen stellend- tief in die Schlafzimmerfenster der Erdgeschoss-Bewohner rein. Erst ins eine, dann ins andere Fenster. Sie sucht. Ihre Bewegungen sind fahrig, hochgradig nervös. Hat sie Angst, entdeckt zu werden? Er ist jetzt fast ganz im eigenen Kleiderschrank verschwunden, damit sie ihn nicht sieht. Als nächstes schaut sie sich die Fassade des Hauses ganz genau an, und dann sucht sie den separaten Nebeneingang der Nachbarn auf. Es sind drei Minuten geschäftiger Blicke, und hätte er, der Nachbar, nicht zufällig währenddessen im Schlafzimmer im Kleiderschrank was gesucht, hätte er die neugierigen Blicke der Nachbarin niemals gesehen. Sie heimlich beobachtet. Er findet dieses Verhalten hochnotpeinlich. Soll er sie mal in sein Schlafzimmer einladen? Fremdschämen.
Ein Rechtsanwalt, der sich fremdschämt. Eine Tochter, die sich für ihre Eltern fremdschämt. Und ein Erdgeschoss-Nachbar, der sich fremdschämt, weil eine Nachbarin heimlich in ‚fremde‘ Schlafzimmer lugt. Fremdschämen. Jetzt ganz gut erklärt.
Ein Flashmob gegens Fremdschämen? Auch keine schlechte Idee. Um das Fremdschämen ein für allemal aus dem eigenen Leben nachhaltig zu verbannen?
Weiterführende Links
Überstücke (Recherche zur Wortbedeutung)
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