Ob in Berlin, Paris oder London – überall in Europa werden ganze Stadtviertel von Investoren umgepflügt. „Gentrification“ nennen Soziologen diese Aufwertung. Viele Menschen fühlen sich davon bedroht, denn steigende, oft unbezahlbare Mieten sind die Folge, und ein Stück originärer, lebendiger Stadtteilkultur geht verloren. Die Dokumentation „Kunst oder Kommerz? Der Kampf um die Stadt“ zeigt, wie sich Künstler gegen diese Prozesse wehren. Denn sie sind die Pioniere, die Viertel mit günstigen Mieten entdecken und ihnen ein besonderes Flair geben – bis die ersten Investoren kommen. (Klappentext zum Film)
Wer früher stirbt, ist länger tot, das ist bekannt. Aber stirbt die Stadt, und findet ihre Seele keine Ruhe? Stadtentwicklung, Stadtentwicklungsplanung, Ghettoisierung, über derlei Gesichtspunkte haben wir hier schon ausführlich berichtet. Ein Begriff fiel indes noch nicht: Gentrifizierung, auf immobilien-kauderwelsch: Gentrification. Es geht um die Veränderung der Stadt infolge professioneller, aber gewissenloser und reißbrettartiger Immobilien- und Standortentwicklung. Ökonomisch geprägtes Immobilien-Development. Die Investoren kommen aus aller Herren Länder und ihr Einsatzort ist ihnen ziemlich egal. Motiv ist der Prozentsatz der zu erwartenden Rendite, die Immobilien-Consultants rechnen Zahlenprognosen schön. Auch der deutsche Immobilien-Tycoon Schneider machte das. Bis das Traum- und Schaumgebäude in den Mädler-Passagen in Leipzig zusammenbrach, die Handschellen klickten. Die überwiegende Anzahl der anderen, weiteren Immobilienfritzen ist schlauer.
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Kultur oder Kommerz? Der Kampf um die Stadt (via Youtube)
Der gezeigte Beitrag auf arte begleitet u.a. Prof. Hartmut Häußermann, der inzwischen am Prenzlauer Berg wohnt. Häussermann ist eine bekannte Persönlichkeit aus der Universitäten- und Stadtentwicklungsforschung. Prenzlauer Berg, so Häußermann, ist inzwischen immer weniger ein „Szeneviertel“, genau: die Szene kann sich diesen Standort nicht mehr leisten. Dafür steht jetzt Neukölln auf der watchlist. Die Agentur coopolis bearbeitet und schafft „Anti-Gentrifizierungs-Signale“, vermittelt Mietverträge für Künstler und nadelt die Stadtteilkarte mit bunten Glaskopf-Nadeln ab, um den Stand ihrer Bemühungen zu dokumentieren. Von Berlin-Mitte nach Neukölln zog auch Gaulliaume, der sich die Miete in Mitte nicht mehr leisten konnte.
Im Hintergrund stehen Blasen, wie die Austragung internationaler Festivitäten, wie beispielsweise eine Olympia-Entscheidung für London. Im Vergleich mit anderen europäischen Städten hat Berlin Sparschweincharakter, es zählt das Gesetz der Portokasse. Europäer und Weltbürger aus anderen Kontinenten legen in Berlin gern Geld an und es nicht so viel wie in München, Stuttgart, Frankfurt/Main. Vor allem nicht wie in London, Paris oder St. Petersburg. Sie erwerben Immobilien aus der Portokasse.
Diese Art von Aufkäufertum geht zu Lasten der Substanz. Die Investoren möchten ihre Investitionen gern versilbern. Angestammte Stadtstrukturen werden aufgelöst, Mietverträge gekündigt, Mieter bzw. Bewohner vertrieben. Diese ziehen dorthin, wo sie es sich gerade noch leisten können zu leben. Neukölln ist gerade das Zielobjekt von Investoren. Bildete es noch zehn Jahren eine Art Schlußlicht im ehemaligen Westen Berlins und verkarstete zu einer „No Go-Area“, haben die Investoren nun den besonderen Reiz des Authentischen gerade in Neukölln gefunden. Was bleibt Ihnen auch übrig? Andere Bezirke sind längst abgegrast.
Gewissenlos, von Zahlen geleitet und ohne Empathie in die „gewachsenen Strukturen“: Selbst in Berlin-Zehlendorf tut sich inzwischen unheimlich viel. Den Anfang bildete die städebaulich relativ unvernündig dimensionierte „Zehlendorfer Welle“ an der Clayallee, für die es keinen Bedarf gibt. Oder eben gerade doch: der kleine Laden an der Ecke stirbt und die Gewerbeflächen am U-Bahnhof Onkel-Toms-Hütte („Ladenzeile“) werden immer schwieriger vermietbar. Dafür kommen „DM“ (Drogerie), Saturn (Elektrogroß-Fachhandel) und solche „Filialisten“. Die inzwischen siebenundzwanzigste Apotheke, die in der Zehlendorfer Welle angestammt werden sollte, musste einen Millionenbetrag „Standort-Abstand“ mitbringen: um in eine solche Perle der Hochkultur einziehen zu dürfen, müssen die Mieter, nicht die Vermieter, incentiv sein. Niemand braucht noch eine weitere Apotheke dort.
Erst wird die Hausordnung durcheinandergewirbelt und für gescheitert erklärt. Dann die ganze Stadtordnung. Am Ende steht kein Stein mehr so richtig auf dem anderen, neue Menschen ziehen ein und mit ihnen Hoffnungen, die sich als seelen- und substanzlos erweisen. Die Struktur, wegen der sie kamen, ist längst verdrängt, abgehauen und auf der Flucht. Gentrifizierung ist daher so was wie „heimlich untergeschobene Genmanipulation“ am Maiskolben und dem Verbraucher sagt niemand, wie er aufgewachsen ist. Manchmal stirbt diese Gemengelage großer Investitionen erst, wenn schon die ersten Neuen eingezogen sind. Wenn z.B. auf einer danebenliegenden, vorgesehenen Baufläche Bodenkontaminationen festgestellt oder zumindest vermutet werden, wie eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2003 belegt.
In Berlin-Lichterfelde wechseln die Gebäudeigentümer in der ehemaligen Telefunken-Wirkungsstätte, den vormaligen McNair Barracks der Besatzungsmacht Amerika, an der Goerzalle wie die Eintagesfliegen. Einer der letzten Investoren starb mit Leemann-Brothers und der amerikanischen Großbankenpleite. Banken bescheren uns Probleme, aktuell hören wir in den Nachrichten vom Schwielower „Ressort“, der Inhaftierung des Immobilieninvestors und die vorläufige Nachricht, er habe im „kriminellen Zusammenwirken mit seiner Hausbank“ Projektunterlagen gefälscht, aufgehübscht und frisiert, damit das Land Brandenburg Fördermittel raustut. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, bis dahin gilt die Unschuldsvermutung.
Die Investoren schummeln, gaukeln und tricksen auf der Oberfläche der Gebäude-Außenhaut, die oberflächlich bleibt. So richtig gut sind nämlich die bild- und metaphernhaft gedruckten Imagebroschüren der Immobilienentwickler nicht: es wird vom Kulturmix, Urbanität und „must go“-Umwelt gesprochen! Genau da mittenrein flanschen sie ihre Modernisierungs- und Neubauprojekte, aber der angestammte Kiezbewohner klagt:“Ich will keine Glasfassaden, ich will leben!“ (Filmbeitrag)