♪♫♫ Irgendwo tief in mir bin ich ein Hörer geblieben…..♪♫♫♪
Bei Radio 88,8 sollen morgens welche anrufen und die erste Strophe von Peter Maffays Smashhit „Ich wollte nie erwachsen sein“ aus dem Tabaluga-Zyklop Cyclon via Telefon zum Besten geben. So weit, so gut.
Wir kennen das aus einer Vielzahl von anderen Mitmachspielchen. Ich selbst hätte damit ein Problem. Eventuell bin ich ein Miesepeter, auf jeden Fall aber bin ich ein Spielverderber, was diese Art Spielchen betrifft. Ich würde solche Spiele niemals mitmachen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich eine gesunde Eigenliebe besitze und mich nicht für andere der Lächerlichkeit preis geben will. Genauer habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Dazu bestandbesteht kein Anlass.
…
Nesin Howhannesijan Trio (Ernst Bier (d.), Nesin Howhannesijan (b.), Kelvin Sholar (p.) „SONOCORE“ (Demoauszug aus CD, Atelier Sawano, Japan)
Das ich dieses heute anders sehe, liegt an einer morgendlichen Radiosendung auf dem Sender 88.8. Keine Ahnung, wie der Sender heißt. Jetzt weiß ich es.
Ruft heute Morgen so ein kleiner Junge an und übernimmt die ihm von der Sendeleitung aufgebürdete Aufgabe: Singen, Peter Maffay, und das freiwillig und ohne Entlohnung.
Dabei stellt sich für den gewöhnlichen Radiohörer allerdings schnell heraus, dass das Kind durchaus eine fürstliche Entlohnung verdient hätte. Verdient ist verdient. Denn das Kind singt den Song so schräg und gar schröcklich, dass jede angemessene Entlohnung den unverzügliche Singstopp hätte rechtfertigen müssen.
Umso mehr weniger traut der Radiohörer nun seinen Ohren nicht, was die Moderatoren so plappern. Das Dünnpfiff zu nennen, ist eine Untertreibung. „Och, das hast du aber ganz toll gemacht,“ weiß irgendeine Moderatorinnen-Schreckschraube zu reden. Der Co-Moderator stimmt in den Singsang ein:“Ich hab gehört, du bist ganz schrecklich talentiert“, weiß er die Sache zu ergänzen. Das Kind ist mehrere Male ziemlich verlegen und arbeitet sich an diese schwierigen Fragen sichtlich ab. Die Antworten kommen nicht mehr flüssig, wie Stockbrot, so häppchenweise, antwortet es. „Ja, ich bin in Kunst gut“, sagt es. Ich denke: „Aber nicht im Singen!“ Ist es nur meine Gehässigkeit?
Nein, es ist Ehrlichkeit. Ganz anders aber dieses Moderatoren-Schrapnellengespann. Ein unehrlicher Singsang der Lügen, falschen Komplimente und Fehleinordnungen. Waren sie nun Schrapnellen? Oder gar Kartätschen? Nein, beides sind sie nicht. Dazu fehlt ihnen die Bissigkeit, die scharfer Munition innewohnt. Solche Moderatoren machen keine Verletzungen und Kollateralschäden auch nicht. Ich gebe das Zeug hier nicht im Detail wieder, aber es ist jenes inzwischen typische Lärmen um jeden Preis, dass auf fast jedem allzu dämlichen Radiosender um Hörer buhlt, aber nicht durch first class-Content, Gewieftheit des Programms und gesellschaftspolitische Dimension. Nein, es ist das typische Gegenteil davon, geistiger Dünnpiff, jeder Maurer und Fußbodenleger könnte es auch als „geistiges Dünnbrett“ bezeichnen oder als Werbe-Ausgleichsmasse auf einem betönernen Fußboden namens Rahmen- bzw. Banderolenwerbung. Darum geht es, es geht um die Werbeeinnahmen des Senders und die vornehme Aufgabe, möglich unabsichtsvoll wirkende Pausenfüller dazwischen anzuordnen. Diese müssendürfen nicht in die Tiefe gehen.
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Nesin Howhannesijan Trio Interview for CNN Worldview (via Youtube)
Im Fernsehbeitrag für CNN wird deutlich: Berlin ist eine Art Schmelztiegel für die internationale Musikszene. Wowi würde sagen: Und das ist auch gut so.
Der kleine Junge wird nun alles das mitnehmen, was er braucht, um ein einigermaßen fehleingeschätztes Leben fortzusetzen:
- Er sei ein großartiger Sänger, müsse nicht mehr üben.
- Er habe besondere Talente, die in ihm schlummern.
- Ja, er sagt, er wäre sogar schon mal im Radio gewesen, wegen dieser Talente.
Nichts von dem, was die Moderatoren dem kleinen, singenden Jungen gesagt haben, stimmt. Niemand hat gesagt:
- Es ist ein Gewinnspiel, um wichtige Werbeblöcke mit unwichtiger Auffüll-Moderation zu stopfen.
- Du hast gesungen, musst aber auf jeden Fall noch üben, denn es war schräg.
- Dass du Kunst gern hast, heißt noch lange nicht, dass du auch ein musisch-künstlerisch veranlagter Mensch bist, der sich überhaupt auf rudimentäre Kunstergebnisse zu konzentrieren in der Lage wäre. Kunst ist harte Arbeit und lebenslange Weiterentwicklung.
- Nichts Zufälliges ist Kunst, sondern alle Kunst ist das Ergebnis harter Arbeit, Ausbildung, Fortbildung und des Dranbleibens. Die richtigen Könner haben grundlegende, vielschichtige und jahrelange Ausbildungen durchlaufen, bevor bei zufälligen Zwischenstationen zufällig gute, präsentable Musikstücke herauskamen.
- Du bist im Radio lediglich nur zufällig gelandet, weil gerade du zufällig dran warst. Alle anderen haben herzlich drüber gelacht, aber dir hat es für zwei Minuten ein großartiges Gefühl gegeben. Bilde dir darüber nichts ein, Freundchen. Dein nächster Radioauftritt wird noch mindestens fünfzehn weitere Zufallsjahre auf sich warten lassen.
Na ja, okay, das ist jetzt eine zugegeben sehr fatalistische Sichtweise vom ganzen. Ein tendenziöser, richtungsweisender und genau entgegenlaufender Kontext dieser Art von „Brot und Spiele“. Schnitt. Das ist der Jazz dieses Lebens.
Seitenhieb zum heutigen Hör- bzw. Anspieltipp: „Howhannesijan, Sholar und Bier wurden mit dem Förderpreis des Berliner Senats „Studioprojekt Jazz 2010″ ausgezeichnet. Die neue CD des Trios „Sonocore“ ,erschienen bei dem japanischen Label „Atelier Sawano“, beinhaltet ausschließlich Eigenkompositionen der Musiker.“ (Auszug aus der myspace-Seite des Trios, Link unten)
Ein anderer Jazz ist der hier. Ende 2011 kam eine Jazz-CD als Tonträger heraus. Das „Nesin-Howhannesijan-Trio“ aus Berlin hat in Japan auf dem kleinen, feinen Jazzlabel ATELIER SAWANO Ende 2011 die Scheibe „SONOCORE“ herausgebracht. Es ist ein ätherischer, gutgespielter und fintenreicher Jazz, der uns teils lediglich nur ins Träumen hinüber verführt und der teils auch schroff ist und dann wieder perlend wie ein cremiges Naturglissando. Dafür gilt unsere besondere Aufmerksamkeit dem New Yorker Ausnahmepianisten Kelvin Sholar am Piano dieses Trios, der durchaus hier und da an die Klavierarbeit eines Keith Jarrett erinnert. Nein, nicht im Sinne billiger Nachäffe, sondern mit der Kraft im eigenen Weg.
Wir haben vom Nesin Howhannesijan Trio als hiesiges „Lied des Tages“ mit freundlicher Genehmigung der Band das Stück „SONOCORE“, das Titelstück des Albums ausgesucht und bitten um Aufmerksamkeit. Sehr wohl zu Recht kommt es ganz ohne Gesang aus, denn heute Morgen hat ja schon dieser kleine, arme und fehlgeleitete Junge im Radiosender 88,8 sein Glück versucht. Das muss reichen.
Niemand muss per se nur Musik hören, die Menschen stimmlich intoniert haben.
Empfehlungen, die das Leben schrieb.
Weniger Radiosender wie diesen hören, wenn die Moderatoren sich nicht bemühen, was für jede Moderation als prioritär zu gelten hat: Authentizität.
Mehr Musik hören wie das Nesin-Howhannesijan-Trio (Nesin Howhannesijan (bass), Kelvin Sholar (p), Ernst Bier (dr) aus Berlin) und deren CD „SONOCORE“: Es verwundert den musikinteressierten Durchschnitts-Jazzmusikhörer einigermaßen, dass von diesem Trio vergleichsweise wenig zu hören war? Das täuscht. Es ist die fehlende Erinnerung. Die Musiker sind sehr gut beschäftigt. Es ist ein ganz kleines Teilchen Wahrheit darin, dass wir, die durchschnittliche Musikhörerschaft, uns aber diesen schwierigen Trionamen nicht haben merken können. Viel Spaß dabei und Hörempfehlung.
- Am 27. März 2012 ist es soweit: Tabaluga und die Zeichen der Zeit
- Myspace-Profil: Das Nesin Howhannesijan Trio
- Direkt nach Osaka, Japan: Feines, kleines Jazzlabel namens Atelier Sawano
(EP)