1245/11: Videos: Ilse Weber in Theresienstadt – interpretiert von Julia Kaiser (voc)

Im Zehlendorfer Droste-Hülshoff-Gymnasium findet aktive Verschmelzung der Schüler mit der deutschen Geschichte statt. Anders als an vielen anderen Berliner Schulen, besser intensiver als dort greift hier das Anfassen unrühmlicher Zeitabschnitte deutlich Platz: wider das Vergessen, wider Wiederholungsgefahren und eben nicht wider die Vernunft. In diesem Fall ist der Schmelztiegel, der Jugendliche und Geschichte zusammenführt und miteinander fest verschweißt, die Musik. So darf uns Geschichte berühren. Beim Sommerkonzert 2011 am 31. Mai werden Werke aufgeführt, die 1575 und drumrum geschaffen wurden, aber auch der Beatles-Song „Eleanor Rigby“ von 1967. Oder König der Löwen, deutlich später ebend. Einen Schwerpunkt bildet aus gegebenem Anlass Musik aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Sie bildet einen Reiseabschluss in ein „Vorzeige-KZ“ der Nazis, die das KZ wahrheitswidrig als „Wiege freudigen Kulturschaffens“ propagandatechnisch maliziös verballhornt hatten. Erinnerung an die Opfer dieses perfiden Systems und „der Ekel“ ggü. den damaligen Tätern.

Ich war in Auschwitz. Deutsche unrühmliche Geschichte 1933-1945. Genauer gesagt: schon bald nach der Machtergreifung durch den österreichischen Gefreiten Adolf Hitler, dessen Familienname „Schicklgruber-Hiedler“ eigentlich anders war. Hitler hieß die Familie nicht, aber als Familie Hitler (Sendung: Familie Hitler auf youtube) ging sie später in die Geschichte ein. Von Anfang bis Ende unrühmlich. Post mortem betrachtet.

Später griff er nach der Macht, die Deutschen waren nicht stark genug, ihre eigene Politikunmündigkeit zu  erfassen, zu begreifen, dass alles, was nun folgen würde, ohne jeden Vergleich sein würde. Ein ganz kleines bisschen später kamen viele, viele Menschen plötzlich in neu geschaffene Lager, die sie Konzentrationslager nannten. Die Lager waren weit verstreut und hatten Grausamkeitsstufen. Ich war „nur“ in Auschwitz, nie in Theresienstadt. Auschwitz war schlimmer. Alles zusammen war: Widerlich, menschenverachtend und vor allem menschenvernichtend.

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Ich wandre durch Theresienstadt – Julia Kaiser (voc) – Droste-Hülshoff-Gymnasium, Sommerkonzert 31.05.11- via Youtube

Dass Zeitungen wie der Tagesspiegel das Kultur- und Werkschaffen einer solch eloquenten Schule wie dem Droste-Hülshoff-Gymnasium bislang nur zu wenig beachteten, beklagt man. Liegt es doch auch daran, dass man im Kulturbetrieb Musik die Trivia hinter sich lassen muss. Denn die kulturellen Trivia sind im „artigen“ Schulbetrieb gang und gäbe. Es gilt, die Grenzen des Bisherigen zu sprengen, sie zu überwinden und einer Kultur Platz zu geben, die aufsehenerregend, bisherige Grenzen überschreitend und damit bedeutsam ist. Gelungen ist das offenbar mit der Orchesterreise nach Theresienstadt. Das erschien dem Tagesspiegel offenbar als bedeutend, siehste! Daraus kann man lernen. Dass es nämlich richtig wäre, bedeutsame „Artefakte“ platzgreifender anzufassen und für deren Bekanntmachung laut zu trompeten. Kein Zweifel: Theresienstadt hat diese Bedeutung für Nachkriegsdeutschland. Die es nicht kennen, denen muss man genau davon erzählen! Sie glauben es sonst nicht oder leugnen gar, so könne es niemals gewesen sein!

Ilse Weber (Link unten) war so eine, die die Nazis nach Theresienstadt verschleppten. Wir fühlen uns -eingedenk unsererVorberichterstattung- zugleich auch an Selma Meerbaum-Eisinger aus der Bukowina erinnert, und auch wenn ihre Geschichten miteinander auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, so sind doch bemerkenswerte Parallelen sichtbar. Die vielleicht perverseste Parallele war: es war noch möglich, kunstbeflissen zu sein. Man konnte dichten, aber die Zettel musste man verstecken. Man konnte auch komponieren, so wie Ilse Weber, und sei es auch nur ein Schlaflied für den eigenen Sohn. Der war schon weg, sie schrieb es ihm von Sehnsucht voll hinterher. Tiefer Schmerz in flachatmender Mutter-Brust.

Ich wandre durch Theresienstadt

Ich wandre durch Theresienstadt,
das Herz so schwer wie Blei,
bis jäh mein Weg ein Ende hat,
dort knapp an der Bastei.

Dort bleib ich auf der Brücke stehn
und schau ins Tal hinaus:
Ich möcht so gerne weitergehn,
ich möcht so gern – nach Haus!

»Nach Haus!« – du wunderschönes Wort,
du machst das Herz mir schwer,
man nahm mir mein Zuhause fort,
nun hab ich keines mehr.

Ich wende mich betrübt und matt,
so schwer wird mir dabei,
Theresienstadt, Theresienstadt
– wann wohl das Leid ein Ende hat –

wann sind wir wieder frei?

Schwer wie Blei, aber nicht zäh wie Leder oder hart wie Kruppstahl, oder wie der Unsinn noch so heißt, den sich Adolf Hitler in seinen Reden herbeisehnte, kurzum: voll von Traurigkeit sind diese wenigen Zeilen. Julia Kaiser ist 16 Jahre alt, Schülerin am Droste-Hülshoff-Gymnasium in Berlin-Zehlendorf und in ihrem Umfeld heißt es, sie könne sehr gut singen. Das macht sie prädestiniert für den Solovortrag des Liedes „Ich wandre durch Theresienstadt“ von Ilse Weber, am Klavier begleitet. So schauerlich schön ist das Lied und man möchte meinen, alle hätten diese deutsche Geschichte schon vergessen. Wenn da nur nicht die Schule wäre. Kürzlich waren die Schüler in Theresienstadt. Musiklehrer Michael Riedel erklärt den Besuchern eines der Sommerkonzerte, dass am 31. Mai 2011 in der großen, alten Aula des Gymnasiums stattfand, was es mit Theresienstadt und den dorthin verreisten Schülern auf sich hat. Sie waren ein paar Tage da. Schulleiterin Frau Dr. Wittkowski ist eine freundliche, nette Person mit vielen Vorzügen, aber einem Nachteil: Ihre Reden sind immer recht lang! Entschuldigung, dabei mag man sie. Trotzdem.

Die Droste-Hülshoff-Schule hat ein besonderes, musikalisches Profil. So gibt es in jeder Klassenstufe eine musikbetonte Klasse, in der Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, die sich in besonderem Maße musikalisch engagieren wollen. Alle spielen ein Instrument und/oder haben sängerische Erfahrungen. (Aus dem Schulprofil der DHS, hier)

2005 kehrte Greta Klingsberg aus Jerusalem noch einmal zurück. In Berlin wurde die KZ-Oper „Brundibár“ aufgeführt, von 12 bis 15-jährigen Schülern. Greta Klingsberg hatte als Kind Teile der Oper in Theresienstadt selbst aufgeführt und gesungen. 2011 ist es auf andere Weise wieder so weit, Reisen in die Erinnerung sind nie total gleich: Schüler aus dem Schülerorchester 1 des Droste-Hülshoff-Gymnasiums unternehmen eine Orchesterreise nach Tschechien in das frühere Konzentrationslager Theresienstadt. Spielen dort die Musik von damals. Gänsehaut.

55 Mal führten jüdische Kinder in Theresienstadt Hans Krásas Kinderoper „Brundibár“ auf. Es waren immer neue Kinder, die auf der Bühne sangen und tanzten. Viele wurden nach Auschwitz abtransportiert und ermordet. Etwa 70 Jahre später brachten jetzt die Schüler die Orchester-Suite aus der Kinderoper „Brundibár“ in Theresienstadt auf die Bühne. Zusammen mit einem tschechischen Mädchenchor spielten sie Stücke jüdischer Komponisten, die dort komponiert und aufgeführt wurden. Viele der damaligen Musiker starben bald darauf in Auschwitz. Ihre Musik aber ist eher fröhlich und selten tragisch. „Die Menschen haben die Musik als Strohhalm angesehen“, sagt Musiklehrer Michael Riedel. Damit auch der „fröhliche Geist der Musik“ nicht zu kurz kam, standen auch Mozart und Smetana auf dem Programm. (Tagesspiegel, 30.05.2011, Link unten)

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Und der Regen rinnt  und Wiegenlied – Julia Kaiser (voc) – Droste-Hülshoff-Gymnasium, Sommerkonzert 31.05.11- via Youtube

Und der Regen rinnt, und der Regen rinnt…
Ich denk im Dunklen an dich, mein Kind.
Hoch sind die Berge und tief ist das Meer,
mein Herz ist müd und sehnsuchtsschwer.
Und der Regen rinnt, und der Regen rinnt…
Warum bist du so fern, mein Kind?

Und der Regen rinnt, und der Regen rinnt…
Gott selbst hat uns getrennt, mein Kind.
Du sollst nicht Leid und Elend sehn,
sollst nicht auf steinigen Gassen gehn.
Und der Regen rinnt, und den Regen rinnt…
Hast du mich nicht vergessen, Kind?

Andere Version
http://www.zwockhaus.de/music/und_der_regen_rinnt.mp3
Quelle: zwockhaus.de

Auch die Schüler des Droste-Hülshoff-Gymnasiums, Orchester 1, treffen eine Zeitzeugin von damals: Dagmar Lieberova. Sie hatte als Kind die Oper in Teilen gesungen und mitaufgeführt. So ist das musikalische Treiben in Theresienstadt im festen Fokus der Berliner Schulen nochmals ein Stück mehr als Pflock eingeschlagen worden. Die Hoffnung stirbt zuletzt, weil Schüler Musik machen, die in einer hoffnungslosen Zeit als Strohhalm aufgefasst werden konnte. Im Paradies, dass dem Märtyrium folgt, muss es besser sein! Michael Riedel erklärt: „Dagmar Lieberova überlebte eigentlich nur, weil ein Zahlendreher eine andere vorsah, die nun statt ihrer verschleppt wurde ins Gas.“ Reiner Zufall.

Ilse Weber wurde im Oktober 1944, fast ganz zum Schluß von Auschwitz, nach ihrer Deportation, dorthin gebracht und sofort umgebracht. Im Januar 1945, nur wenige Monate später, befreiten sowjetische Soldaten die Lagerinsassen und es bot sich ihnen ein schreckliches Bild. Ilse Weber aber war schon im Paradies angelangt. Zurück blieben Berge von Schuhen, menschlichen Haaren und Brillen. Die liegen da noch heute.Ich war in Auschwitz am 06. Mai 2005, mir standen Flüsse gefüllt mit Wasser in den Augen und sie zeronnen in Stürzbächen unter meinem Gesicht: ich schämte mich nicht dafür, sondern für Deutschland! Einmal im Leben sollte jeder Mensch in Auschwitz sein!

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