1771/13: Historie: Herr oder Frau Bellerbaum in Berlin-Schöneberg hat Regeln an die Wand genagelt! Da stehen sie noch heute!

Chimäre ihrer Zeit: Die Bellerbaum-Beschriftung

Chimäre ihrer Zeit: Die Bellerbaum-Beschriftung

Die Schrift „Sütterlin“ ist eine alte deutsche Schreibschrift, die Anfang des letzten Jahrhunderts eingeführt und dann ca. 1942 offiziell wieder abgeschafft wurde. Zeitzeugnisse dieser Zeit sind Schriften, die wir nur noch höchst selten antreffen. Manchmal in einem Kellergang. Dann sind wir baff.

Es gibt Handwerker, die sind Tischler und sie haben eine Art erotisches Phantasma ihrer Arbeit. Manche streicheln alte, gestrichene Fensterflügel, doch der Lack ist ab. Sie sagen: „Ich liebe Holzfenster.“ Das sind keine Perversen, sondern Handwerker mit Liebe zum Detail. Eben etwas Ähnliches kann man von Hausverwaltern sagen, die eine spürbare Affinität zum historischen Diskurs verspüren. Ein altes Haus beherbergt lustwandlerische Tendenzen, der Hausverwalter streift durch die Kellergänge und wird eines Schildes gewahr, das da hängt. Es ist uralt und handbeschriftet, und drauf steht in Sütterlin:

Achtung! Das Abstellen von Fahrrädern und Gegenständen jeglicher Art in den Kellergängen, ist wegen Behinderung zu den einzelnen Mieterkellern, nicht gestattet. Im Auftrag Bellerbaum

In rot, aber nicht in Fettdruck. Aber hübsch unterstrichen, sozusagen „mit Rädern unten dran“. Es waren ganz andere Zeiten, jene Jahre, als dieses Schild entstand. Das Kopfkino macht „plopp“ und schon gehen uns die Gedanken durch, wie wilde Pferde.

„Die die wo keine Ahnung haben“ von Rechtschreibung, über die soll man nicht ulken. In jedem eigenen, selbstverfassten Text findet der Korrekteur Rechtschreibfehler. Nobody ist perfekt. Jedem kann ein Lapsus passieren. Hier sind es gleich mehrere. Sütterlin ist eine altdeutsche Handschrift. Wir kennen sie auch von Feldpostkarten aus dem Russlandfeldzug, die ihren Liebsten heimatliche Grüße von der Ostfront übersandten.

Man lernte diese Schrift zu lesen, in der Grundschule, als der Berichterstatter zur Grundschule ging. Das war so 1968/69. Gleich eingangs.

Wieder aufgefrischt wurden jene verblichenen Erkenntnisse im Berufsschulturnus der Berufsausbildung. Kaufleute in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft lernten Anfang der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts (nicht Jahrtausends) „Sütterlin“ aus beruflichem Grunde. Aus gutem: Bspw. alte Grundbücher sind noch häufig in dieser Schrift abgefasst gewesen. In jener Zeit reifte auch im nachwachsenden Erwachsenen (das bin ich!) der Entschluss, fortan in Sütterlin zu signieren, Unterschriften in „altdeutsch“ zu geben, die in den späteren Jahren zu „Kryptolin“ verrotteten, angesichts zunehmender „Handschreibfäule“. Bei inzwischen einsetzender Digitalisierung verfaulte das Handgeschriebene. Es verweste als persönlicher Vorzug und stank wie moderne Blaufäule. Man schreibt heute handschriftlich viel weniger. Handschrift ist Luxus. Büttenpapier ist handgeschöpft, hat sich als Trendpapier aber inzwischen erschöpft. So wie Büttenpapier ist inzwischen auch Handschriftliches: total erschöpft. Die lahme Hand.

Inzwischen gibt es elektronische Grundbücher und die Steuerverwaltung verlangt elektronische Steuererklärungen, maschinenlesbar, doch das nur am Rande.

Sütterlin ist eine Chimäre seiner Zeit. Die liegt weit zurück. Wir können die offizielle Gesetzeslage nachgooglen und erfahren was von 1915 und 1942, NSDAP-Befehlshaber Martin Bormann verbot die Schrift wieder. Gehalten hat sie sich noch länger. Wenn wir im Kellergang lustwandeln und uns vergegenwärtigen, dass Herr oder Frau Bellermann mit apostolischem Getue Verordnungen gegen die Wand nagelte, so wissen wir nun zumindest, in welcher jener deutschen Stilepochen so kunstvollendete Kulturdiktate ausgesprochen wurden. Genagelt übrigens mit Dachpappennägeln.

Die Kommasetzung ist tollkühn und dass „die Behinderung zu den einzelnen Kellergängen anzunehmen wäre“, eine stilistische Noblesse besonderer Art. Denn irgendeinen Grund muss jenes Verdikt gehabt haben. Es wurde angefertigt „Im Auftrage“ eines Herrn. Verbote und Verordnungen wurden stets „Im Auftrag“ angefertigt. Zu befolgen aber hatte die der Mob, das gemeine Volk, auch und sogar im Hauskeller, pflichtbeflissen.

Frauen hatten zu jener Zeit noch nicht so viel beizutragen, nicht einmal in Kellergängen. Das Ganze auf Blech, mit ordentlich handverzogenen Schreibe-Hilfslinien und rostrot eingerahmt. Jedoch vermutlich später, denn niemand wäre so beknackt gewesen, das eigene Geschriebene mit rostrotem Touch zu überpinseln. Mit Sütterlin hatte man noch Achtung vor dem „geschriebenen Wort“. Erst später verfochten Schlendriane und kaufmännische Ehrenleute  das „Handschlaggeschäft“ wieder. Deutschland hatte einen Kaiser, der wurde verjagt. „Der Untertan“ wurde geschrieben und es begann eine Zeit ketzerischer Verbrämungen. Widerstand hatte Fuß und Hand in den Wirren der Weimarer Republik, Philipp Scheidemann wurde ins Ausland abgeschoben.  Stresemann wünschte man „verwese man“. Wäre da nicht jemand in Berlin-Schöneberg gewesen, wie Herr oder Frau Bellerbaum, die wichtige, handgeschriebene Verbotsschilder aufschrieben. Im Auftrag. Im Auftrag wessen?

War es „Onkel Fritz aus Neuruppin“? Gut möglich. Das ist nicht überliefert. Wahrscheinlich war es nicht Zicken-Schulze aus Bernau, der hatte den Kopf voll mit anderen, wichtigeren Dingen.

Für all dieses kann heute niemand mehr ein Urheberrecht geltend machen. Es gilt als sicher, dass Herr oder Frau Bellerbaum längst verstorben sind. Die Erinnerung bleibt. Das Schild hängt nach wie vor da im Jahre 2013 im Keller des mehrteiligen Mehrfamilienhauses in Berlin-Schöneberg, Gartenhaus, Keller, Gang links, hinten an der Wand.

Auf dem Schild fehlt für heutige Verhältnisse ein Button „Newsletter bestellen“ und ein weiterer „Newsletter abbestellen“. Niemand misst dem Schild heute noch Aktualität zu und die wenigsten glauben, dass noch Neues von Herrn oder Frau Bellerbaum zu erwarten ist. Die ganz unverfrorene Wahrheit lautet daher: Ein solches Schild braucht solche Buttons gar nicht. Sie wären vollkommen überflüssig.

Im Übrigen liegt am Schild nachweislich kein DSL-Anschluss an. Das wäre ja auch noch schöner.

 (EP)

2 Gedanken zu „1771/13: Historie: Herr oder Frau Bellerbaum in Berlin-Schöneberg hat Regeln an die Wand genagelt! Da stehen sie noch heute!

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