880/2010: Kampagnen: Die Berlin-Zehlendorfer Waltraudstr. bekam jetzt -endlich!- ihren ersten Stolperstein

Verlegebeispiel (Quelle: stolpersteine)

Am Samstag, den 03. Juli 2010: Es ist richtig heiß in Berlin-Zehlendorf, 33,5 ° Celsius zeigt das Thermometer um 14:05 Uhr an. Michael Rohrmann, Projektbeauftragter für den Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf, ruft bei Thomas Gotthal an: „Wir sind jetzt am Wilden Eber, gerade fertig, in fünfzehn Minuten sind wir da!“. Um 14:25 Uhr trifft Rohrmann zuerst ein, wenig später folgt ihm ein metallicroter, kleiner Kastenwagen, an Bord Günter Demnig, Projektinitiator des Projekts Stolpersteine. Um 16 Uhr wird in Südafrika das Fußballspiel Deutschland:Argentinien beginnen. „Say No To Racism“ werden die Spieler eingangs auf einem großen, blauen Transparent vor sich hochhalten, sie werden es alle hoch halten, um damit ein klares Nein zu jeder Form von Rassismus zu bekennen! Wer das vor Fußballpublikum auf der ganzen Welt sagt, der wird wahrgenommen!

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Stolpersteinverlegung 03.07.2010 – Waltraudstr. 27, 14169 Berlin-Zehlendorf (via Youtube)

14:25 Uhr: Günter Demnig trifft ein. Es ist der xte Stolperstein heute, doch auch wenn es „affenheiß“ ist, sein Arbeitsprogramm hat nichts mit den Rolling Stones zu tun. Stolpersteine heißt das Projekt. gesichtspunkte.de hat hierüber immer wieder berichtet. Heute geht ein lange gehegter Wunsch von Thomas Gotthal vom Büro Gotthal in der Waltraudstr. 26 in Erfüllung. Sie haben das Projekt Stolpersteine letztes Jahr angefangen, immer wieder auf Wohnungseigentümerversammlungen ins Gespräch zu rücken. Unter TOP 03 werden Verwaltungsmaßnahmen und -beschlüsse abgehandelt. Mal die Verwalterbestellung, mal die Beschlussfassung darüber, dass der Schnee- und Eisbeseitigungsdienstleister gefeuert wird. Oder aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die WEGs erschüttert oder auch deren Verwalter.

Nach ersten Versuchen, bei Wohnungseigentümern dafür zu werben, Stolpersteine stadtweit dort zu verlegen, wo Opfer des NS-Terrorregimes zuletzt wohnten, fanden sich inzwischen einige Wohnungseigentümer, die einen solchen Stein finanzieren mochten. In selteneren Fällen äußerten Wohnungseigentümerversammlungen als Ganzes die Absicht, auf Kosten der WEG einen solchen Stein zu finanzieren, wenn -so die Bedingung- durch Recherche aufgeklärt würde, dass an derselben Adresse ein Verfolgter des NS-Regimes gewohnt hätte.

Nachruf für Edith Müller, geborene Wertheim, zuletzt: Waltraudstr. 27, 14169 Berlin-Zehlendorf, Jahrgang 1898, deportiert: 28.10.1943, ermordet in Ausschwitz

Um 14:25 Uhr heute. Das Büro Gotthal hat schon längere Zeit vorher recherchiert, dass dies im Hause Waltraudstr. 26 nicht der Fall war. Das kann man Glück nennen oder „weniger Erblast“, ändert aber nichts daran, dass eventuell in der Nachbarschaft? In Waltraudstr. 27 (auf der gegenüberliegenden Straßenseite) ist ein Opfer verzeichnet. Das Büro Gotthal hat Kontakt mit dem Eigentümer aufgenommen, Ausdrucke bereitgestellt und eine Bitte, den Stein zu übernehmen. Warum keine Antwort kam, ist unergründlich und wurde niemals besprochen. Also hat das Büro Gotthal den Stein finanziert. Es sind 95,- € einmalig, die ein Stück weit jedenfalls diese „klein Zehlendorfer Welt“ verändern. Es kann der morgendliche Schulweg der Kinder sein, der Abendspaziergang mit dem Hund, oder die Joggingstrecke zum Fischtal.

Ab heute wird niemand einfach so frei von Gedanken an die Geschichte seines Weges gehen.

16:30 Uhr: In der Waldsiedlung Krumme Lanke haben sich mehrere Anwohner einer Sackgasse dort zum gemeinsamen Fußball gucken verabredet. Gesichter, Beine, Körper, alles ist „deutsch“ koloriert. Der Berichterstatter versteht heute zum ersten Mal, warum es einen 4. Stern geben soll. Zu wenig Ahnung von Fußball. Die Waldsiedlung Krumme Lanke hat Geschichte. Sie hieß früher SS-Kameradschaftssiedlung und wurde „unter Adolf“ erbaut. Wer hier wohnte? Sagt doch schon der Name. Heute haben sich die Zeiten komplett geändert. Jetzt wohnen da junge Familien, vielleicht maximal zwei Kinder, denn die Häuser sind nicht gerade groß. Die Häuser wurden gebaut für „deutsche Familien“ als (national-)“sozialistisches“ Kleinod in fußläufiger Nähe zur Krumme Lanke. Viele Familien haben ihre Häuser „sehr entkernt“, beispielsweise um die Küche in einen angrenzenden Essbereich mit Austritt zur Terrasse umzuwandeln. Die Waldsiedlung Krumme Lanke kann als „stolpersteinfrei“ gelten, hier wohnte früher niemand, den man heraus trieb, um ihn zu ermorden. Aber vielleicht wohnt dort ja jemand, der gerade deswegen Lust hat, einen Stolperstein anderswo in Berlin zu finanzieren? Das kann man einen zulässigen, zumindest nicht abwegigen Gedanken nennen. Bitte einfach melden: Wir vermitteln gern!

Alles ist deutschtrunken, deutsche Farben, südafrikanische Tröten, Vuvuzelas, selbst die in Trikolor Deutsch. Keiner der Fußballgucker via Leinwand und Beamer käme hier auch nur ansatzweise auf die Idee, den hässlichen Deutschen zu geben! Die Gesamtlage ist ausgesprochen freundlich, die Sonne scheint, der Grill wird angeworfen! Ein Spanier und seine Ehefrau in „spanisch-rot“ dazwischen. Später gibt es noch das 1:0 von Spanien über Paraguay. Die SS-Kameradschaftssiedlung von früher ist heute die Waldsiedlung Krumme Lanke und ein Wohnort von internationalem, jungen Kleinfamilien, über Gartenzäune hinweg und dieser Tage ein bisschen mit einem nationalistischen, aber unangestrengten Anstrich von „wir sind Weltmeister“ oder werden es zumindest, eventuell, oder doch nicht?

14:30 Uhr: Günter Demnig trifft rasch erste Vorbereitungen, um den Stolperstein für Edith Müller, geborene Wertheim (!), im Kopf- bzw. Berliner Katzensteinpflaster zu versenken. Er hat schnell abbindenden Zement dabei, der schon fast zur Neige geht. Das Tiefbauamt hat vorher Bescheid bekommen, denn die Fußwege sind öffentliches Straßenland. Die gesamte Verlegung des Stolpersteins dauert etwa fünf Minuten. Wir haben das Zeremoniell im Video festgehalten, um das zeigen. Zeigt man etwas, was einem auch trotzdem so nebensächlich erscheinen mag, so hat man wenigstens Gelegenheit, darüber einmal nachzudenken. Jetzt liegt dieser Stein da und ist ein fester Bestandteil der Zehlendorfer Geschichte.

***

23.00 Uhr: Ein anstrengender, aufregender Tag geht zu Ende. Deutschland musste gewinnen, im Fernsehen hatte jemand gewitzelt, er bestelle sich eine Pizza Maradona, die hätte „nichts drauf“.  Die Spanier haben sehr korrektes Übungsteamplay gezeigt, eher korrekt, als aufregend, aber ausreichend, um Paraguay mit gerade mal einem Tor nach Hause zu schicken. Wer weiß schon, wo Günter Demnig jetzt ist? Wie auch immer die Menschen jetzt über diesen Tag denken: Es war ein ganz großer Tag in jeglicher Hinsicht. Und auch für Edith Müller, geborene Wertheim, umgebracht 1943 in Auschwitz.

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