Guten Morgen, Deutschland! Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist… (Gehörlosigkeit): 2be deaf in Berlin


(Herbert Grönemeyer, Musik nur wenn sie laut ist) via youtube

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Ihr Traummann muss Bassmann sein. Dann vergisst sie, dass sie taub ist.  Wie viele andere Menschen in ganz Deutschland und überall woanders auf der Welt.

Die besungene Dame gehört zu den Gehörlosen Tauben (*) Deutschlands und hat damit infolge eines nicht funktionierenden Gehörs nur noch die Möglichkeit, Musik mit dem Körper zu spüren. Ein Bassmann, so die Theorie von Herbert Grönemeyer, wäre demzufolge eine Art Referenzmannpartner für sie. Denn seine Musik könnte ihr u.U. in die Magengrube fahren. Gehörlose Taube(*) wurden in einer früheren Fassung des Bürgerlichen Gesetzbuches (§ 828 BGB) auf denselben geistigen Stand gesetzt wie Minderjährige.

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§ 828.Minderjährige; Taubstumme.
(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem Anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) [1] Wer das siebente, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem Anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. [2] Das Gleiche gilt von einem Taubstummen.

Anmerkungen bzw. Quelle hier:

1. 1. Januar 1900: Erstes Gesetz vom 18. August 1896, Art. 1 des Zweiten Gesetzes vom 18. August 1896.
2. 16. April 2004: Artt. 3 Abs. 1 Nr. 2, 4 Abs. 1 des Gesetzes vom 6. April 2004.
3. 1. August 2002: Artt. 2 Nr. 4, 13 des Gesetzes vom 19. Juli 2002.
4. 1. August 2002: Artt. 2 Nr. 4, 13 des Gesetzes vom 19. Juli 2002.
5. 1. Januar 1900: Erstes Gesetz vom 18. August 1896, Art. 1 des Zweiten Gesetzes vom 18. August 1896.
6. 1. Januar 2002: Artt. 1 Abs. 2 S. 3, 9 Abs. 1 S. 3 des Gesetzes vom 26. November 2001.

Als ich davon erfuhr, war ich nicht nur betroffen, sondern regelrecht sauer. Mir fiel sofort der Vergleich mit einem unsäglichen § 175 StGB ein (zur Geschichte dieses § weiterführend hier), der zwischenzeitlich ebenfalls abgeschafft wurde für homosexuell orientierte Menschen.

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Die wohl berühmteste Filmszene aller Zeiten ist in dem Filmschinken „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ aus dem Jahre 1993 zu sehen und stellt eine von mehreren Hochzeiten mit all den unerwarteten Wendungen einer grundlegenden Entscheidungsfrage zur Schau, und das in Gebärdensprache. Wie gebärden Babys? Wie gebärdet man auf Japanisch oder als Indianer in Nordamerika? Wie man mit den Händen spricht, erfährt der Interessierte auch in der Sendereihe Sehen statt hören des Bayerischen Rundfunks.

In einem Mehrfamilienhaus, das durch Gehörlose Taube (*) zu 100% bewohnt wird, müssten Hausordnungen nicht sämtliche Regelungen enthalten, die in einem Haus mit Hörenden notwendig sind. Eine Art Hausmusik-Regelung wäre jedenfalls entbehrlicher. Allerdings kann natürlich zu laute Musik auch von Gehörlosen Tauben (*) wahrgenommen werden und nicht jeder hat keinerlei Restgehör.

Thomas Zander (Quelle: Homepage)

Thomas Zander (Quelle: Homepage)

Das Thema ist ein zu weites Feld, das hier den Rahmen einer gedanklichen Erstbefassung sicherlich sprengen würde. Dass das immer so bleibt, muss allerdings nicht sein. Die Gehörlosen in Deutschland haben sich inzwischen weitgehend emanzipiert und treten selbstbewusst, organisiert und sehr gut durchdacht auf. Es gibt einen Deutschen Gehörlosenbund, ein Deutsches Gehörlosentheater, das 2002 gegründet wurde. Die Rahmenbedingungen für Gehörlose Taube (*) haben sich in Deutschland und auf der ganzen Welt sehr verbessert durch die Einführung des Internet, Mobiltelefone, SMS-Server, Instant Messaging-Clients und soziale Netzwerke. Die Gehörlosen Tauben (*) sind in sehr gutem Kontakt zur Welt im Übrigen. – Thomas Zander ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Deutschen Gehörlosentheaters und wohnt in Berlin-Pankow. Zander ist neben seiner Arbeit am Theater an einer Vielzahl von weiteren Projekten beteiligt, die die Anliegen der Gehörlosen Tauben (*) Deutschlands wahrnehmbar(er) machen. Visual Hands, ein e.V., residiert im Hause Schulzestr. 1 in Pankow. Der Verein bietet ein breitgefächertes Kurs-, Fortbildungs- und Seminarrepertoire an. Angeschlossen ist als Begegnungsstätte ein Café im Erdgeschoss (qype-Nutzer agentberlin, Kritik hier) des typischen Pankower Altbaus. Sehr liebevoll sind auch die Geschäftsräume des Vereins im Obergeschoss renoviert, die Räume sind in freundlichen, hellen Farben gehalten und man fühlt sich gleich wohl.

Dina Tabbert-Zander (Quelle: Homepage)

Dina Zander-Tabbert (Quelle: Homepage)

Damit sich Gehörlose Taube (*) mit Hörenden verständigen können, gibt es als Bindungs- bzw. Kommunikationsbrücke die Gebärdensprache. Zu den profiliertesten und mit weitem Abstand erfahrenen Gebärdensprachdolmetschern dürfte Dina Zander-Tabbert gehören, die mit Thomas Zander verheiratet ist und zwei eigene, gehörlose taube (*) Kinder aufzieht. Sie selbst ist hörend und sagt: ‚Hörende sprechen, Gehörlose Taube (*) gebärden, Hörende leben in ihrer Welt, Gehörlose Taube (*) haben ihre eigene, leben aber in beiden.‘ Gemeinsam mit ihrem beruflichen Partner Gunnar Lehmann betreibt sie den Gebärdensprach-Dolmetschservice zwischen Mensch. Zander-Tabbert ist bekannt ‚wie ein bunter Hund‘ in der Gehörlosen tauben (*) Szene, aber auch darüber hinaus. Etliche Fernsehauftritte hat sie abgeleistet, es wurden Porträts gesendet. Für ihr Leben interessierte sich Alfred Biolek noch „zu Sendezeiten“. Einen SPD-Bundesparteitag „unter Schröder“ zu dolmetschen, war kein Problem. Kongresse, Veranstaltungen, alle möglichen denkbaren Geschichten, auch das Simultandolmetschen in einem kleinen Fenster unten rechts einer ganzen Fernsehsendung. Tabbert-Zander hat buchstäblich schon jeden Dorfweiher der Gebärdensprache entmystifiziert und ist daher eine äußert Gefragte ihres Fachs. Dina Zander-Tabbert ist mehrsprachig und „hörig“, hat ein „normales“ Gehör und mag daher allerdings Musik, auch wenn sie leiser ist. Ein andermal mehr davon….

Video der Berliner Initiative gebärdensprachiger StudentInnen (via Youtube)

(*) Kleines Gehörlosen Tauben (*)-Latein

Nach Veröffentlichung dieses Beitrags auf gesichtspunkte.de kam eine kurze Wortfindungs-Diskussion auf. Sehr gut informierte Informanten spielten uns folgende Interna zu: Wenn man richtig hip sein will, ersetzt man inzwischen das Wort gehörlos durch taub. Die Taubengemeinschaft (…) ersetze das Wort „gehörlos“ inzwischen immer durch „taub“, weil „gehörlos“ irgendwie humorlos klinge. Und da es sich diese Website zur Aufgabe gemacht, hip, tonangebend und visionär an ihre investigative Stadtteil-Berichterstattung zu gehen, wurden daher die oben verwendeten, sehr trockenen Gehörlosen-Begriffe konsequent umgestellt. Die Redaktion beherrscht übrigens nicht die Gebärdensprache und konnte dies Wissen daher nicht mit Gehörlosen Tauben (*) diskutieren. Dass es aber Gesprächsvermittlungsangebote gibt, die empfehlenswert sind, darüber demnächst hier mehr