24h Berlin – Ein Fernsehexperiment ist geglückt. Was nicht gesendet wurde…

Der Kritiker - MRR

Der Kritiker - MRR

Die Sendung „24h Berlin“ wurde am vergangenen Samstag ausgestrahlt und umfasste 24h Reality TV, Eindrücke, Reportagen aus der bundesdeutschen Hauptstadt. Die Sendemacher haben sich derartige Erfolgsquoten(von bis zu 18% Zuschauer-Sendeanteil) nicht zu träumen gewagt.

Gesendet wurde

Eine der vielen Persönlichkeiten, deren Leben die Sendung eingefangen hat, ist eine alte Frau mit verbindlicher Krebsdiagnose. Sie wohnt in einem Hospiz und erwartet ihren sicheren Tod. In wenigen Wochen wird es so weit sein. Sie erzählt vor der Kamera, die fest auf sie gerichtet ist. Zwischenfragen stellen die Kameramänner nicht. Sie lassen die Frau erzählen. Sie erzählt von 1989, von der Wendezeit, und von ihren zwei Kindern, die nun erwachsen sind. Sie haben sie verlassen, genau in diesen Tagen, als die Mauer aufging und man durchschlüpfen konnte. Richtung Westen. Seit dem hat sie ihre zwei Kinder nicht mehr gesehen. Sie sind nie wieder zurückgekehrt. Sie haben sich auch nicht gemeldet. Sie sagt, die haben jetzt ihr eigenes Leben, und sie will auch nichts Schlechtes über sie sagen. Sie sind doch ihre Kinder. Auch wenn sie sich nicht mehr melden. Ihre Augen werden wässrig, stehen dann komplett unter Wasser, sie weint und sagt, sie hat doch nur noch kurze Zeit zu leben, und sie hat nur einen Wunsch: Wenn wenigstens einmal noch ihre Kinder kämen, damit sie sie noch einmal, nur einmal sehen kann. Schnitt.

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Was nicht gesendet wurde

Frau Haller (* Name geändert) lebt in Berlin-Wilmersdorf, unweit vom Fehrbelliner Platz. Sie ist weit über achtzig, und der Schriftverkehr mit ihr ist für die Verwalterin unauffällig. Die Hausverwaltung hat unlängst eine Kampagne gestartet und auf alleinstehende Menschen hingewiesen. Auf alte Menschen, die niemanden haben. Die Hausverwaltung nennt das „das Methusalem-Kompott“.  Weil man es irgendwie griffig benennen muss. Damit es sich einprägt.

Auf Frau Haller trifft vieles zu, was die Hausverwaltung als Problem bereits erkannt und für diesen Fall als regelungsbedürftig, verbesserungsfähig empfindet. Ja, es gibt Kinder, aber die wohnen woanders. Keiner im Haus weiß  genau, wo die wohnen. Die lassen sich auch nie sehen. Niemand hat eine Telefonnummer da gelassen. Warum hat sich niemand vorgestellt: „Haller, mein Name, ich bin der Sohn von Frau Haller, die hier wohnt.“ Nichts dergleichen. Auch eine Betreuung existiert nicht, kein sozialmedizinischer Dienst, oder wie das heißt. Jetzt waren die Maler da, im Auftrag der Verwaltung, haben den Außenanstrich der Fenster bearbeitet. Sie sagen, sie werden es „dem Amt“ mittteilen. Sagen sie. Dass die Wohnung jetzt mit Hausrat und Müll voll ist. Dabei ist die Wohnanlage äußerst gepflegt, und wer hier wohnt, kann eine „beneidenswerte Wohnumgebung“ für sich selbst behaupten. Die Nachbarn geht das aber nichts an. Findet die Hausverwaltung nicht. Sie sagt, man kann für solche vereinsamten Menschen ganz bewusst „Patenschaften“ übernehmen. Man kann sich „verantwortlich machen“.

Der Fall liegt anders, als bei anderen. Unlängst hat die Website mugshooting.de über Walter R. aus Neukölln berichtet, der mit fast 89 Jahren „fit wie ein Turnschuh“ ist, und das ist keine Übertreibung. Walter R. hat derlei Probleme nicht, nur dass seine Lebensgefährtin seit kurzem an Krücken laufen muss, beklagt er. Walter R. hat eine Vielzahl von persönlich hochgeschätzten, persönlichen Kontakten, steht voll im Leben und denkt gar nicht daran, sich einzuigeln, sich zurückzuziehen und wegzuschließen. Walter R. hat viele Lebensmittelpunkte, sogar mit fast 89 Jahren. Man kann die Hochachtung vor einem solchen Leben gar nicht angemessen ausdrücken. Am 30. September wird Udo Jürgens (Griechischer Wein) 75 Jahre alt, und er spricht: „Sex ist das Vorrecht der Jugend. Ich finde es geschmacklos, wenn ältere Menschen ihr Intimleben öffentlich ausbreiten.“ Sagt der Frauenversteher Udo Jürgens. Gleichzeitig erklärt der frühere und jetzige Frauenschwarm zugleich in einem Anflug spiritueller Erhellung tiefe Dankbarkeit zu empfinden dafür, dass er bislang von totbringenden Krankheiten verschont wurde. Altersweisheit, auch (und gerade) von Udo Jürgens.

Alte Menschen (Kampagne) Quelle gotthal.de

Alte Menschen (Kampagne) Quelle gotthal.de

Der Aufruf zum „Methusalem-Kompott“ zeigt erste Früchte. Anrufe laufen bei der Hausverwaltung ein. Verschiedene Menschen finden aus verschiedenen Gründen, da wäre es mal angebracht hinzuschauen. Wir schauen hin. Wir sagen, wir hätten gern eine briefliche Mitteilung, soviel Zeit muss sein. Der Brief ist elektronisch angekommen. Nun müssen wir den Text genauer lesen. Wer solch einen Brief schreibt, führt hoffentlich nur gutes im Schilde. Wenn der Brief Ernst zunehmen ist, was wir annehmen, dann hat er Konsequenzen. Unausweichliche Konsequenzen. Behörden müssen zutreffend informiert werden, aber auch Behörden wollen „einen Riecher“ erst noch entwickeln, ob da tatsächlich Hilfebedürftigkeit vorliegt. Bei der Hausverwalterin bekommt die virtuelle Eigentümerakte eine „rote Einfärbung“. Die Farbe Rot signalisiert „Watch“, schau hin, die alte, gebrechliche Eigentümerin gerät unter Beobachtung. Die Hausverwalterin führt eine Vielzahl von weiteren Telefonaten, versucht Hintergrundinformationen zu bekommen. Denn sie kann auch nicht leichtfertig sein, und Menschen mit Behörden vernetzen, die dies vielleicht doch gar nicht benötigen. Das braucht seine Zeit. Es kommt jetzt nicht auf eine Woche an, aber nach zwei Wochen muss entschieden werden, ob wir etwas tun, oder ob wir es lassen. Ein persönlicher Eindruck von der Situation ist nicht schlecht.

Schnitt. Die Szene wurde nie gesendet. Aber was die gesendete Szene angeht, so hat es uns ebenfalls das Wasser in die Augen getrieben. Angesichts solcher Szenen kann man einfach nicht gleichgültig sein.

Der Sendung „24h Stunden“ ist ein Experiment gelungen, und auch wenn das Leben streckenweise langweilig ist, wie gesendet, so war doch der Gesamteindruck, dass ein Blick in das Leben von Menschen in unserer Stadt nicht lang-, sondern kurzweilig ist. Nicht gesendet wurde, wie viele Aufrufe und Hinweise es von engagierten Menschen gibt, um das Leben von Hilfebedürftigen in unserer Stadt noch ein bisschen lebenswerter zu machen. Um bei dem Beispiel der krebskranken Frau im Hospiz zu bleiben: das derartiges sich niemals mehr wiederholen darf!

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Weiterführende Links

24h Berlin – Website

mugshooting.de: Walter R. aus Neukölln (88) wohnte schon immer hier

gesichtspunkte.de – Das Methusalem Kompott

gotthal.de – Kampagne “Methusalem Kompott”

gesichtspunkte.de – Fundstellen zum “Methusalem Kompott”


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