821/2010: Positionen: Ist schon Saure-Gurken-Zeit? Nachrichtenflaute zu vermuten, BILD verlegt Adipositas fest!

FotoPodcast: Jeder Zweite ist zu DICK (Bildzeitung 03.06.10)

FotoPodcast: Jeder Zweite ist zu DICK (Bildzeitung 03.06.10)

Als ich den Laden betrete, sage ich zu Günter (* Name geändert)

Das sind ja heute wieder Schlagzeilen in der Bildzeitung, wie man sie sich wünscht.

Er meint

Kein Problem für mich, oder? Aber für dich: einer war heute schon da. Du bist der Zweite.

Schluck. Schlagfertig ist er, Günter. Günter hat eine „Berliner Schnauze“, so nennt man diejenigen in Berlin, die auf alles eine recht schnell geschossene Antwort verfügbar haben. Eine solche „Kodderschnauze“ (berolinisch für etwas Ähnliches) bezeichnen manche Menschen in Berlin als „ihr Kapital“.

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Dickes B

Ich mag sie bei manchen Menschen gern, wenn es welche sind, von denen man sagt, sie trügen das Herz auf dem rechten Fleck. Kommt scharfer Verstand hinzu, ist mir das noch lieber. Eine Kodderschnauze, die sich mit Dumpfbackentum paart, hingegen mag ich weniger.

Der Beruf erfordert, sich auf Gesprächspartner einzustellen. Sich einstellen zu können, heißt den Jargon ggf. zu beherrschen. Wahlweise kann ich mit Akademikern jeden Grades reden, fachsimpeln, schwadronieren, philosophieren oder … reden. Oder es müssen kurze Sätze sein, prägnant und präsent wie das Innere eines Wasserglases.

Hauptsache, ich werde verstanden.

Im Allgemeinen reden wir unnötig viel. Auch ich. Was man zu sagen hat, ist meist in zwei, drei Sätzen ohne Nebensatz zu sagen. Der Rest ist psychologisch bedingtes Beiwerk. Es umschmückt die Absicht, die ich verfolge, verschleiert sie eventuell sogar oder verwässert wieder alles. Für nur wenige Menschen ist es möglich, sich selbst und die eigenen verbalen Ausdünstungen so zu reduzieren, dass sie als Mensch nicht (überflüssigerweise) herüber kommen. Wenn es um eine Sache geht, ist Sachlichkeit vernünftig, aber Höflichkeit gebietet, sachliche Aussagen emotional zu verhängen mit Freundlichkeit, Aufmerksamkeit, ausreden lassen.

Das Gegenteil davon ist die Bildzeitung. Sie besticht durch „einfache Wahrheiten“, die Texte sind so zu recht gestutzt, dass ein einfach  strukturierter Mensch sie gut verstehen bzw. begreifen kann. Dabei rutscht allerdings oft die Tiefe komplett weg. In der Bildzeitung sind tiefschürfende, nachdenklich machende Texte nicht zu erwarten. Oder doch: Das Lesen einfacher Wahrheiten und verkürzter Sachverhalte kann ins Gegenteil umkippen.

Wir sehen schon: so richtig bringt uns auch dieser Text hier nicht weiter. Jemand, der Zeit seines Lebens gute, deutliche Texte verfasst hat, wurde gestern 90 Jahre alt. Die Bildzeitung haben wir heute nicht gekauft, um zu erfahren, wie viel Wahrheitsgehalt in dieser Fettdruck-Schlagzeile steckt. Ich bin eher „Jeder Zweite“ und fühle mich angesprochen. Warum dafür eine neue Studie für Berlin und Brandenburg benötigt wird, weiß ich nicht. Einfach mal ein bisschen umgucken.

Ansonsten kommt die Schlagzeile ein bisschen schräg daher: sie mutet an, wie ein Titelfüller in einer Zeit, in der Bundespräsidenten Respekt rufen und zurücktreten, Lena ML Oslo bezwingt und isländische Vulkane den Billig- und Vielfluglinien Millionenausfälle bescheren, für deren Amortisation (Naturkatstrophe) sie Regierungen ansprechen. Wo bleibt denn da das unternehmerische Risiko? Der isländische Vulkanausbruch ist keine Naturkatastrophe, sondern ein Naturschauspiel.

So wie Marcel Reich-Ranicki, dem wir gestern dafür eine Widmung ins Bekenntnisbuch schrieben.

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