921/10: Stadtbild: Lt. Mitteilung der Stadtplanung: Kreuzberg Oase der Beschaulichkeit, aber in zentraler Lage!

Kreuzberg - eine Oase der Beschaulichkeit!

 Komisch, und ick hätt immer jedacht, dass die da keen Jeld rinstecken konnten inne Verjangenheit, dass dit heute immer noch ärmlich aussieht da….Quartiersmanagement, dit machen se nur an anderen Ecken. (O-Ton eines Bewohners aus der Gegend)

Die Wohnanlage in Berlin-Kreuzberg ist Ende der fünfziger Jahre im Aufbauprogramm mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaues gebaut worden: Sie ist praktisch, quadratisch, gut. Nur schön ist sie nun wirklich nicht. Es gab diese Zeiten, in denen war nichts schön, aber vieles war praktisch. „Breite Schichten der Bevölkerung“ mussten nach dem Weltkrieg Zwo mit angemessenem, d.h. viel zu kleinem Wohnraum versorgt werden. Die Bäder in den Wohnungen: würg! Nicht einmal für Fliesen einfachster „Kajüte“ (berolinisch für Güte) reichte die öffentliche Penunse (berolinisch für öffentliche Mittel).

_seitentrenner Flugzeug

 

Idee für eine Werbeschildanlage

Nein, wirklich, schön war der Städtebau in diesen Zeiten gewiss nicht. Doch jetzt ist 2010 und was heute die Bauaufsicht Friedrichshain-Kreuzberg schreibt, ist wirklich ein „Kappes erster Kajüte“, womit wir erneut wieder bei obiger Ausdrucksweise sind. Es geht inhaltlich um die Genehmigung, eine Werbeschildanlage aufbauen zu dürfen. Der Ablehnungsbescheid enthält besagten Kappes und das ist ja schon einmal interessant zu kommentieren.

Beantragt wurde eine Werbetafel, 2,70 m hoch, 3,70 lang, Bodenfreiheit 2,50, Höhe der Werbeanlage 5,40 m., beleuchtet mit zwei Leuchtstoffröhren. Die Anlage sollte in 3-4 m Entfernung von der Wohnhauszeile, die an dieser Stelle mit einem Erker endet, auf der privaten Grundfläche errichtet werden. Hintergrund: Die besagte Grünfläche ist seit Jahren verwahrlost, wird von keinem der Hausbewohner sonderlich gepflegt, dient oft lediglich nur als Hundeauslauf- und -kotplatz oder, um dort Bierflaschen oder -dosen hinzuwerfen. Das Grundstück, um das es geht, ist eine Seitenstraße der Kreuzberger Blücherstr., von der die Wohnstraße abgeht. Es handelt sich um das vorderste Haus zur Straßenecke hin, hinter dem Eckhaus schließen sich eine Zahl von vier bis fünf baugleichen Häusern in geschlossener Bauweise an, die einen städtebaulichen Riegel, quer zur Blücherstr. bilden.

Der Bescheid enthält nun einiges, warum diese Anlage abgelehnt wurde. So z.B.:

Gem. § 24 Abs. 2 Bauordnung 1929 müssen Ankündigungsmittel, die an oder auf Baulichkeiten angebracht werden, so beschaffen sein, dass sie die einheitliche Gestaltung des Straßenbildes nicht stören. Allerdings muss man festhalten, dass das einheitliche, dortige Straßenbild ganz unheitlich ist. Es gibt weder eine typische Berliner Traufhöhe dort, noch eine einheitliche Bebauung. Durch Kriegsschäden sind eine Vielzahl von ursprünglichen Altbebauungen abgerissen worden. Genau in der Gegend klüften sich die Häuserschluchten unheitlich. Es gibt Fünfziger, Sechziger Jahre, es gibt Jahrhundertwende voriges Jahrhundert. Unterschiedliche Geschoßhöhen.

Und über dieses wörtlich wieder gegebene Zitat kann man nur lachen:

Aufgrund der Stellung an der Blockecke greift sie sowohl in das einheitliche Straßenbild der Blücherstr. als auch der Xy-Straße  in diesem Block gestalterisch sehr negativ ein. Der gesamte Baublock bis zur Heiligkreuzkirche ist geprägt von einer einheitlich gestalteten Wohnbebauung der fünfziger Jahre in aufgelockerter Zeilenbauweise mit dazwischen liegenden Grünflächen und ist als Ensemble noch praktisch im Originalzustand erhalten.  Zur Blücherstraße hin sind eingeschossige Geschäftsbauten ebenfalls im Stil der Nachkriegszeit original erhalten.

Und jetzt kommt’s:

Die Geschlossenheit dieser Bebauung bildet in zentraler Kreuzberger Lage eine Oase der Beschaulichkeit, die von den Mietern sehr geschätzt wird und unbedingt zu erhalten ist.

Hinsichtlich der Stadtgestaltung ist aber anzumerken:

Mag man auch im Einzelfall der Auffassung sein, dass Werbeanlagen nicht per se zur Verschönerung des Stadtbildes beitragen, weswegen man diese gerne abzulehnen beabsichtigt, so muss man noch keineswegs städtebaulichen Quark wie diesen dazu einrühren, der allgemeinen Auffassungen nicht standhält.

  • Viele Menschen empfinden die unter großen ökonomischen Sachzwängen mit wenig Geld und maximaler städtebaulicher Ausnutzung hochgezogenen Billig- bzw. Substandardwohnungen der Fünfziger und Sechziger Jahre als Anschlag auf das gesunde Bürgerempfinden. Viele empfinden Architektur und Schnitt dieser Zweckwohnhäuser als überkommen und insbesondere im Stadtbild als negative Beispiele „schlechterer Zeiten“.
  • Mit anderen eher bravourösen Epochen wie Renaissance, Barock, Gotik oder Biedermeier könnten diejenigen Wohnungsbauten schlicht nicht mithalten, die nach dem Krieg aus Sonderprogrammen heraus geschaffen werden mussten, um nach den großen Kriegsschäden einigermaßen angemessenen Wohnraum zu errichten, wohlgemerkt nicht für die Haute Volaute (berolinisch für Haute Volée), sondern für „breite Schichten der Bevölkerung, also für uns, das Volk!
  • Der Bereich Stadtplanung und Bauen des Bezirksamts verkennt völlig, dass die vorhandenen lediglich eingeschossigen Alt-Gewerbepavillons seit Jahren nicht mehr vom Einzelhandel angemietet und betrieben wurden, sondern dass diese Flachbauten bei entsprechenden, regelmäßigem Leerstand als Gewerbeflächen ungeeignet sind und oft nur noch als Büroflächen vermietet wurden. Sie haben ihren ursprünglichen Zweck überlebt und lassen sich von einem funktionierenden Einzelhandel nicht mehr wirtschaftlich betreiben. Sie weisen darüber hinaus so schlechte Nutzwerte auf, dass nur mit großen Investitionen (in Fenster, Türen, Wärmedämmung und dergleichen) überhaupt noch Nutzer finden lassen.
  • Solche Ensemble zu erhalten, wie für einen Denkmalschutz für derartige, minderwertige Bauten zu plädieren ist so ähnlich, wie Gelsenkirchener Barock, geschmackloses Mobiliar aus den Fünfzigern und deren Herstellung unbedingt erhalten zu wollen. Allerdings ist Gelsenkirchener Barock inzwischen in Museen zu besichtigen, wo er auch hingehört. Nichts anders gilt im Übrigen für das Ostseebad Prora und die dortige Ausstellung typischer DDR-Möblierungen. Mit demselben Ansinnen hätte man ganze Plattenbau-Siedlungen „im Osten“ unter Veränderungssperre stellen können. Tat man aber nicht.
  • Die gewählte Formulierung, die fünfziger Jahre-Siedlungen stellten, wie sie sind, eine „Oase der Beschaulichkeit“ dar, ist schon Spitze. Man stelle sich eine Vielzahl vorbeiflanierender Endsiebziger (Senioren) vor, die bedächtig pfeifend an der eingeschossigen Ladenzeile des inzwischen als Büro genutzten Gewerbeflachbaus vorbeiflanieren, immer „Ich will keine Schokolade“ pfeifend. Klasse. Die Fünfziger, eine Oase der Beschaulichkeit.

Ganz großes Kino (oder war’s ein Daumenkino vorhandener Textbausteine?), liebe Stadtplanung Friedrichshain-Kreuzberg, was ihr da zusammen schreibt! Ich habe lange nicht mehr über so einen hanebüchenen, öffentlichen Unsinn gelacht.

Schade eigentlich. Die Eigentümergemeinschaft, der das Haus gehört, hat in den letzten Jahren beträchtliche Geldmittel in die Aufwertung der zu schlechten Bausubstanz gesteckt. Die Fassade wurde gestrichen, die Treppenhäuser komplett renoviert. Die 1.500,- EUR, die diese Werbetafel gebracht hätte, wollte sie in die Instandhaltungsrücklage für künftige Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen stecken. (Reaktion der WEG-Verwalterin)

Daumen hoch, gefällt mir!