743/2010: Serie: Historische Sprüche: Was für denen einen weiß, ist für den anderen schwarz!

Historische Sprüche: Erkenntnis & Verblendung

Historische Sprüche: Erkenntnis & Verblendung

Er fährt langsam an die Fußgängerinsel an der Straße vor ihm heran. Von links kommt eine Mutter mit Kleinkind im Kindertrolley, diesen vor sich herschiebend. Sie sieht so ein bisschen gestresst aus, rote Hektikflecken im Gesicht. Überhaupt: es scheint ein bisschen zu spät zu sein. 8:02 Uhr: Was allerdings das Kleinkind in der Schule soll? Ist es die Doppelmutter, die ihrem zweiten Kind noch schnell die Kindermilchschnitte bringt? Oder wäre das pädagogisch nicht korrekt? Sie trabt relativ schnell heran. Während der Autofahrer die Fahrt schon verlangsamt. Denn es ist Usus in dieser Straße, dass die Autofahrer „low level“ fahren, langsam, ganz langsam. Die Autofahrer haben in dieser Straße alle Zeit der Welt. Die Kinder auf dem Weg zur Schule, es ist ein Heiliges Gesetz.

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Dies Gesetz existiert jedoch nur unausgesprochen. Niemand hat es je erwähnt und nirgendwo hat es gleich angeschlagen an die Wand der neuen Schulturnhalle. Dort prangt das Schild „Fahre langsam im Bereich der Schulzuwegungen“ nicht. Stattdessen prangt eine Leuchttafel an der Schulturnhallenwand. Es zeigt, dass die auf dem Dach installierte Photovoltaikanlage Strom erzeugt hat. Wie viel Kilowattstunden und -was auch interessant ist- wie viel CO²-Einsparung das bewirkt hat. Es ist ein umgekehrtes Schuldenkonto: die Anzeige zeigt an, dass diese Schule „korrekt“ ist und die Weltatmosphäre ein bisschen geschenkt hat. Gebt zurück, was sie kaputt macht, an Mutter Natur: CO²-Einsparungen.

Weil das Gesetz der „autofahrenden zur-Schule-Bringer“ namens Eltern auch ohne Anschlag an der Schulturnhallenwand funktioniert, ist noch niemand auf die Idee gekommen, die globale Erinnerung an das Bestehen dieses Gesetzes an zu montieren. Schon das mit dem Auto bringen ist politisch eigentlich unkorrekt. Denn seit Jahren argumentiert der Schuldirektor „gegen Windmühlen“, die Eltern hören freundlich zu und vergessen es dann wieder. Einige Eltern sagen auch, sie könnten nicht anders. Es seien die Umstände, die sie dazu zwingen, die Kinder mit dem Auto zur Schule zu fahren. Auch der Schuldirektor kann die Welt nur in seinen möglichen Grenzen verändern. Diese Frage sprengt seine Kompetenzen und überschreitet sie bei weitem. Eltern lassen sich nicht regulieren. Das ist schade, denn sonst wäre es nicht zu diesem Beitrag gekommen.

Mutter Courage, die mit den Hektikflecken im Gesicht und dem Kleinkind vorm Gestüt, bläst nun zum Sturm auf die Schul-Bastille und ruft eine nicht mehr existente Kavallerie von Schulkindern und Elternbringdiensten in offenbar aufgelöster Marschierordnung querüberfeld ab, doch niemand folgt ihr und sie ist „mutterseelenallein“ bei ihrer attaque en fourrageurs. Wie um ihre große Force de Frappe (zu Deutsch: Schlagkraft) zu demonstrieren, ballt sie eine Sozialistenfaust (mit rechts) direkt gegen den Wind und in Richtung des heranfahrenden Autofahrers. Die Kampfesfaust zum Gruß deutet sie unmissverständlich an, „en passant“ zu sein, im Vorbeigehen begriffen. Dazu mummelt sie etwas Unverständliches in einen nicht vorhandenen Damenbart, so von wegen: „Hier fährst du langsamer, fremder Freund.“ Der Autofahrer tut, wie ihm geheißen. Nichts anderes hatte er vor, als dies unaufgeschriebene, an keiner Wand hängende Gebot aufs Neue zu beachten. Du sollst nicht rasen.

Mutter Courage, das sagten wir schon, hat es ausgesprochen eilig und niemand darf sich ihr in den zu späten Weg stellen. Auf der anderen Seite der überquerten Kleinststraße darbt nun die Bordsteinkante vor sich hin und wartet auf Überwindung mit dem Kleinstkinderwagen. Fast fällt sie hin, stolpernd und gestresst, die Hektikflecken noch ein letztes Mal in rot aufglühend, bevor sie keuchend das gegenüberliegende Trottoir erreicht. „Ach, wärest du doch nur fünf Minuten eher los gegangen, wir hätten uns niemals gesehen“, kommt dem Autofahrer spontan in den Sinn.

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Erlebnisse wie diese müssen sich einordnen. Man hängt ihnen noch eine Weile nach, ist zuerst ein bisschen „innerlich verärgert“ über so viel Frechheit, forsche Selbstüberschätzung und Dreistigkeit. Doch mit der Zeit ordnen sich die Gedanken und es tritt eine Endregung ein, während sich eine Gewissheit auf die geschundene Seele des Autofahrers legt: „Was dem einen Erkenntnis, ist des anderen Verblendnis.“ Der historisch bedeutsame Spruch wäre wohl nie geschaffen worden, wenn er am 16.03. Anno Zwanzigzehn nicht von irgendeinem Autofahrer gedacht worden wäre. Seine Allgemeingültigkeit leitet sich ab aus der weiteren Erkenntnis des autofahrenden Sprücheklopfers, dass die eigenen Einstellungen zu fast jeder weiteren Angelegenheit immer solche Bipolaritäten aufweisen. Der eine vergnügt sich, während der andere sich erregt. Der eine findet die Sache hundsgemein, der andere findet, das sei nicht so schlimm und die Lösung liege im gemeinsamen Kompromiss. Von der Bipolarität zur Bipolaren Störung – das gehört in den Bereich der Begriffsklärung.

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Ein ganz anderer Zusammenhang: Jemand schreibt am Samstag eine Email und vermeldet seiner Verwalterin „fortgesetzt Regenwasser durch Decke“, Fotos anbei. Und fügt ein P.S. noch in den elektronischen Schreibebrief. „Wir hoffen, Sie hatten ein besseres Wochenende.“ Das liest die Verwalterin am Samstag und sagt: „Noch nicht, es ist erst Samstag.“ Muss man ein „kalter Hund“ bzw. ein „falscher Hase“ sein, um so kaltschnäuzig zu empfinden? Ist dem einen „sein Vermouth“ dem anderen „sein Lebertran“? Am Montag früh sind bereits seit Samstag mehrere Menschen verständigt und instruiert. Das Wochenende war nicht vollkommen arbeitsfrei. Und die Vorstellung, einen Verwalter ließe es kalt, wenn seine Mandantschaft im Wohnzimmer Regenjacke tragen müsse, ist falsch. Ein Mensch tut, was ein Mensch tun muss. Alles andere wäre Spekulation. Oder Verblendnis?

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Vom Umgang miteinander. Die Schule hat heute Morgen längst angefangen, als Mutter Courage gebieterisch die Rangordnung der Straße gebot. Die Schule des Lebens auch, allerdings endet sie wohl nie…

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