Zu Weihnachten 2009 gibt es keine überraschenden Geschenke: alles ist vorhersehbar

Nachbarn, Nachbarn - Geschichten aus dem Alltag

Er gehört ganz unbestreitbar nicht zu den gut Belichteten, was den ‚human factor‘ angeht. Seine Umgangsformen sind eher rüde, dafür aber präzise und knapp. Nur was man nicht verleugnen kann, wird von ihm anerkannt. Alles andere unterscheidet er wie ein italienischer Pizzabäcker in Streifen und Formen, in flache Teller, Ebenen. Niemand weiß so richtig über ihn Bescheid, denkt er.

Doch jetzt ist Weihnachten und seine Mutter hat ihm was geraten, damit er in einem langfristig angelegten Streit noch Punkte auf dem eigenen Wohlverhaltenskonto verdient. Er hat es weitgehend so geschrieben, wie es Mama von ihm verlangt hat. Sogar ohne Schreibfehler.

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Vor ein paar Jahren wurde er Vater, doch seine Tochter wohnt inzwischen anderswo: in einer richtigen Familie, in  der es warm ist und reich an sozialen Kontakten in Berlin-Steglitz. Sie ist da gut aufgehoben. Ganz anders er. Mike Manteciori (* Name geändert) hat seinen human factor so gut wie gar nicht im Griff. Im Moment lebt er so ein bisschen in einem Provisorium. Mike muss einen Weihnachts-Wunschzettel geschrieben haben an den lieben Gott und der hat ihn gefragt, ob er sich 2010 verändern möchte? Dazu gehört erneut ein Umzug, diesmal zurück ins Grüne. Gut, letztes Wochenende war er mit seiner Neuen schon in der Wohnung Maße nehmen, in die er jetzt einziehen will. Mama hat auch da geholfen. Beim Messen.

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Wird er diesmal alles besser machen? 2009 war irgendwie kein gutes Jahr. Er ahnt instinktiv, dass er sich nun mal für etwas entscheiden muss. Seine neue Perle, beispielsweise. Er fühlt, er hat keine Wahl, er muss sich bewusst für sie entscheiden. So wie bisher kann er auf gar keine Fall weiter machen. Es ist zu viel Porzellan zerschlagen worden, es wurden Verletzungen zugefügt. Weihnachten würde eine gute Gelegenheit für einen neuen Anfang sein.

Er schreibt der Kindesmutter einen elektronischen Kurzbrief und sagt, er habe ein Weihnachtsgeschenk für die gemeinsame Tochter. Er würde es gern am Heiligabend mittags um 12 Uhr vorbeibringen. Ob das in Ordnung sei? Auch das ein Weihnachts-Wunschzettel, diesmal an die Kindesmutter und nicht an den lieben Gott, an den er nicht glaubt.

Das wäre es vielleicht schon, denkt sie nach. Wenn da nur nicht so unendlich viel vorgefallen wäre, allein nur 2009. Es ist viel gewesen, viel zu viel. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat er mit einem Immobilienmakler telefoniert und gesagt, erst werde er den Xy fertig machen und dann sei sie dran, die Mutter ihres gemeinsamen Kindes. Sie ist wie Xy in Ungnade gefallen bei ihm, hat nicht so gespurt, wie er es von diesen Frauen Menschen erwartet. Oder auch von jedem anderen Menschen, insbesondere von Frauen. Er hat sie verfolgt, mit Bremsspuren vor ihrem Wochenendgrundstück, mit Haut und Haaren. Er hat ihr nachgestellt, versucht, alles rauszubekommen, jedes Detail. Sein Vater ist ein ganz großer Stratege, und der hat ihm Tipps gegeben. In seine ehemalige Wohnung hat er vorübergehend sogar einen Ex-Häftling einziehen lassen, hat die Kindesmutter vor Gericht gesagt. In eine Wohnung mit einem Häftling drin, hat sie gesagt, da will sie ihre Tochter nicht schicken.

Und jetzt dieses Weihnachtsgeschenk, ohne jede Vorwarnung und aus heiterem Himmel? Er hatte nicht einmal ein Geburtstagsgeschenk gebracht, keine Karte, kein nichts. Steht er jetzt unter psychologischer Beratung? Wie kommt der Sinneswandel? Ist es eine große, menschliche Geste?

Ein kurzer Augenblick will an das Gute in jedem Menschen glauben, an Wahrheit, Aufrichtigkeit, Zuversicht in die Besserung eines jeden Menschen. Doch dann kommen die Erinnerungen zurück an die gemeinsame Zeit. Es stellen sich Zweifel ein, zuerst ganz leise, und schließlich immer drängender. Nein, er hat damals die Beziehung geführt, wie man eine Beziehung nicht führt. Doppelleben. Lauter Geheimniskrämereien, versteckte Kontoauszüge, Zugänge zu Single-Plattformen und heimliche weitere Kontakte mit anderen Frauen. Es war, als brauchte er ständig neue Bestätigung dadurch, dass er sich durch verschiedene Betten schlief. Sein Blick auch heute nie direkt und ruhig in die Augen schauend.

Ist allerdings nicht irgendwann einmal in jeder noch so verkrachten Existenz ein Fünkchen Hoffnung? Sie glaubt, seinen wirklichen Veränderungen stünden seine gesellschaftlichen Verhältnisse im Weg. Seine Eltern, beispielsweise. Die eine zu dominante, fast beherrschende, nein, herrschende Rolle spielen. Seine Eltern, denkt sie, sind seine Strippenzieher, die ihm überhaupt erst eingetrichtert haben, zu Weihnachten 2009 müsse es ‚menscheln‘, das gäbe Punkte vor Gericht. Die Kindesmutter glaubt nicht an Läuterung, an vorgespiegelte Eindrücke, an Weihnachtsgeschenke, die seine Eltern ausgesucht und bezahlt haben, nur um vor Gericht zu punkten. Mike M. soll vor Gericht den liebenden Vater geben, der für ein regelmäßiges Umgangsrecht auch den Gang nach Canossa nicht scheut, direkt zum Wohnort der Kindesmutter aufs Grundstück in Berlin-Steglitz. Es ist gar keine Frage: Wo sie wohnt, hat sie ein umfassendes Hausrecht und sie kann und will das nicht aufweichen für jemanden, der aus heiterem Himmel den Weihnachtsmann gibt. Sie will das Geschenk in einer so verfahrenen Situation auf gar keinen Fall annehmen. Zuallererst findet sie den Gedanken abwegig, ihn als Treppengast zu empfangen am eigenen Wohnort.

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Er hat sie (früher) geschlagen, er hat sie (vor kurzem) noch fertig machen wollen und nun dies? Es steht fest: Beide brauchen jetzt Beratung. Er muss ein langfristiges Konzept der richtigen, kleinen Schritte einüben und -vor allem- verinnerlichen. Selbst daran zu glauben und fest auf einen Weg kommen, von dem es kaum noch ein Zurück gibt. Nachhaltigkeit. Er muss vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen, den Häftling nachhaltig rauswerfen aus seiner Wohnung, aus seinem derzeitigen Provisorium ausziehen, Frieden mit den Nachbarn schließen, seine Eltern, die das alles anstiften, zurückpfeifen und in ihre altersbedingten Schranken weisen. Wenn er umgezogen ist, so denkt sie in einem Anflug guter Gedanken, zurück an seinen letzten Wohnort, eine Etage tiefer, in die größere von zwei Eigentumswohnungen, kann er sich aufrichtig um Frieden und echte, gutnachbarschaftliche Beziehungen kümmern. Sie wird sich darüber berichten lassen, denkt sie. Ob er jetzt aufhört, ein Doppelleben zu führen? Ob er anfängt, mit den Nachbarn wie mit gleichberechtigten Menschen nebeneinander zu leben, deren Gefühle und Sorgen respektiert und deren Lebensleistungen? Ob er diesen abwegigen Gedanken aufgibt, seinen ehemaligen Nachbarn immer wieder aufzuoktroyieren, er werde ihnen schon zeigen, wo’s  langgeht, obwohl die das eigentlich gar nicht wissen wollen, nein, wovon seine früheren Nachbarn eine gänzlich andere, funktionierende Vorstellung haben?

Keep it under control!

Um wieder ins Gespräch zwischen Kindesvater und Kindesmutter zu kommen, brauchen beide professionelle Hilfe. Oder einen Wink des Schicksals, der alles auf den Kopf stellt. Er muss lernen, sich für die Vergangenheit zu entschuldigen, er muss Mitgefühl entwickeln für erlittene Schmerzen. Sie muss lernen, vergeben zu können. Aber wie immer im Leben bedarf es dazu einer guten, bemühten Vorarbeit, vor allem einer ehrlichen. Das alles sind Gesichtspunkte, über die es sich lohnt, so kurz vor Weihnachten einmal nachzudenken. Vielleicht ist Weihnachten 2010 schon alles ganz anders? Niemand kann das vorhersagen, bis dahin steht der gesamte Vorgang insgesamt unter Beobachtung.

Nein, er soll nicht kommen am Heiligabend um 12 Uhr mittags, sie wird ihm einen Weihnachtsbrunch zu nehmen empfehlen im Brauhaus in Rixdorf. Er soll sie Weihnachten (erst einmal) in Ruhe lassen. Rixdorf ist weit genug weg von Steglitz.

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