3061/15: Lokalwissen: Von Ochsentouren, Ochsenblut, Gespenstern, Samen-Udo und den gern gesehenen Gästen #Rudiments

Kneipe - Stampe - Bierlokal

Kneipe – Stampe – Bierlokal

Im nachfolgenden Beitrag geht es immer nur um Rudi. Um den Musiker Rudi Nielson und um Rudolf Otto Böhne, den dahin geschiedenen Rumpel-Rudi, den sie „das Gespenst“ nannten.

Der Berliner Musiker Rudy Nielson plant in Kürze die Veröffentlichung einer Platte. Davon wird man noch hören. Zur Zeit aber befasst er sich mit Renovierungsplänen in seiner Kreuzberger Wohnung. Es geht um die Veredlung der Fußböden. Eine Ochsentour.

Denn die Ochsentour folgt, in geschichtlich korrekt wiedergegebener Reihenfolge erzählt, dem Ochsenblut. Nielson erinnert an das häufig verwendete Ochsenblut und sagt als Frühsechziger (Gegenteil von Alt-Achtundsechziger), er könne beschwören, in diesem Leben nicht noch ein weiteres Mal Arbeiten wie diese anzufassen.

Yorckschloesschen_Kultkarte

Digitaler Ausriss aus dem Who´s Who des Yorckschlosses aus 30 Jahren Kneipenbetrieb mit Spitznamen von Gern Gesehenen Gästen #GGG

Apropos Lang- und Kurzzeitgedächtnis, steht beides doch nicht im Widerspruch zum Vorhaben der Menschheit, sich in Ausschankgeschäften zu treffen, um den Gang der Welt miteinander gedeihlich zu besprechen. So ist es seit Hunderten von Jahren Usus in Berlin und so wird es noch eine Weile bleiben.

Bis die Kneipenkultur sterben wird, weil niemand noch Sehnsucht hat nach Teppich, Tand und Ledersofa. Wer sich keine App herunterladen will, um gesellig beieinander zu sitzen, dem wird auch das gesellige in Erinnerungen schwelgen verleidet, mit der Zeit.

Diesen unaufhaltsamen Trend digitaler Menschüberwältigung stoppt eine kleine kulturbeflissene Papierdreingabe, ein in die Speisekarte eingehängter Appendix mit häufig gesehenen, alten Stammgästen und ihren virtuellen Nomenklaturen.

Wir kennen solche Personen: Whisky-Willy (Willy Brandt), der „schöne Rolf“ (Eden). Aber wissen wir auch, wer „das Gespenst“ war und warum er so hieß? – Das Gespenst hieß früher Rudolf „Rudi“ Otto Böhne und ist schon lange tot. Früher lebte er in der Gustav-Müller-Str. in Schöneberg und betrieb dort ein kleines sozialistisch angehauchtes Ladengeschäft. Drucksachen, Werbung, Schrifttum, Bücher und beispielsweise ROCK CITY, das Jahrbuch der Berliner Musikszene, wurden von hieraus berlinweit vermarktet. Mit Durchschreibeanzeigenaufträgen, eine Durchschrift für den Kunden, ein weitere für die Agentur (als Provisionsnachweis), das Original zum Verlag.

Olaf.Daehmlow_Yorckschloesschen

Foto: mit freundlicher Genehmigung von Carmen Jasmyn Hoffmann, Fotografin

Er macht Unmögliches möglich: Er ist der einzige Berliner Gastronom, bei dem schon mal Carlos Santana persönlich auftrat. (Link)

Banner FotocreditsHomepage der Fotografin

Die Geschäftsführung war zuweilen etwas chaotisch, vieles wurde auf Zettel geschrieben, nicht wenige blieben später unbearbeitet und die Agentur nannte sich Rumpel Press. Demzufolge strich Inhaber Rudi zunächst den Nicknamen Rumpel-Rudi ein, bevor er Jahre später umzog und in der Yorckstr. im Eckhaus eins über dem Berliner Szenelokal Yorckschlösschen von Olaf Dämlow Platz nahm.

Das Gespenst ist eine Tarnkappenmarkierung für einen Gast, der regelmäßig mit zu wenig Geld in Schankräume geht, um reichlich Kaltgetränke zu sich zu nehmen. Die gute Tradition, die Nachbarschaft im Hilfsgepäck, lässt es die Zeche gerne anschreiben auf gewissenhaft geführten Getränkelisten. #GGG

Die Gespenstisierung (neues Wort) ist nun die Metamorphose vom gut sichtbaren, leicht angesäuselten, regelmäßigen Tresengast, im dschumm. Chamäleongleich wechselt zum Monatswechsel Farbe und Aggregatszustand des häufig gesehenen Gastes, metamorphos transzendent transluzierend bis hin zum durchsichtig Gearteten, unsichtbar.

Kneipenrauch (Skurril)

Kneipenrauch (Skurril)

Im Yorckschlösschen ist die Raucherlounge vor der Tür auf dem Trottoir, mit Zelten eingehauste Außentische, darunter auch der Tisch des Grauens.

Dieser Zustand ist allerdings nicht zufällig, sondern leicht herbeiführbar. Je nach Auszahlungszeitpunkt der öffentlichen Hilfen (heute „Hartz IV“) berühmt sich der gern gedankenvolle Gastronom #GGG, die Spicklisten mit unbezahlt gebliebenen Kaltgetränken aufzutischen. Just in jedem Augenblick ist Rumpel-Rudi durchsichtbar. Es ist wie von Gespensterhand geschehen, sogar mehrmals, es existieren viele Augenzeugen.

Hier wurde aus Rumpel Rudi „das Gespenst“ und wie wir erfahren, wurde er wegen seines krummen Rückens und in Verbindung mit seinem ebenfalls auftauchenden Bruder mit „die Buckligen“ geführt. So wie man Hui Bu das Schlossgespenst nennt, sind alle Tarnnamen mittlerweile deutschlandweit zu Ehren geführt, mit Ernest Hemingway in Verbindung gebracht und letztlich damit zu einem guten Ziel geführt worden.

Schon beim ersten Überfliegen ploppen Gedanken auf, verbinden sich zu Assoziationsketten, bilden Szenen. Der Heizungsknopf-Starrer bewegt minutenlang den Kopf nicht, bis die Tür aufgerissen wird und Der Fremde mit klackenden Absätzen zu Küchen-Heike an die Theke tritt: Ist Halbohr zu sprechen? Vor mir liegt eine ganze Kurzgeschichtensammlung in 200 Wörtern. Wobei es keine fertigen Geschichten sind, sondern deren Atome, Bausteine des Lebens, ein vierspaltiges Periodensystem, dessen Elemente sich untereinander zu neuen Werkstoffen legieren lassen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Aber diese Worte hier malen mehr als tausend Bilder.(Philipp Reinartz, Süddeutsche Zeitung, Link folgend)

Wir sind wieder beim Rudimenten, beim zauberhaft Geahnten: Was bleibt uns anderes als Erinnerung?

Wir wollen, dass alles besser wird. Und das endlich was passiert… – die Geschichte hat die Süddeutsche Zeitung gerade nochmal aufgeschrieben – bitte hier entlang…. #Lesetipp

 

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