1449/11: Buchtipp: Die „Geschmacksschule“ von Jürgen Dollase setzt die Hippie-Ära mit anderen Mitteln fort: mit ihm als Löffelpapst

Geheimtipp: Bitte nicht weitersagen!

Sachbücher zur Kulinaristik und Gastrosophie erweitern das Verständnis von Geschmack und Kochkunst. Darin geht es ihm nicht in erster Linie um das Nachkochen von Rezepten, sondern um das Erlernen einer Geschmackskultur. Der jeweils eigene Geschmack soll systematisch sensibilisiert werden. Entgegen der vorherrschenden Orientierung an der Haute Cuisine plädiert Dollase für eine „demokratische Esskultur“, da guter Geschmack schon mit einfachen Zutaten und damit von jedermann „erlernbar“ sei.  (aus wikipedia: über „Jürgen Dollase“)

Jürgen Dollase (Jahrgang 1948) war früher mal Keyboarder. Seine Band hieß Wallenstein und dies zu Zeiten, als die Menschen anfingen, ihre Haare immer länger wachsen zu lassen. Am Haarschnitt hat sich seitdem wenig verändert, nur ist Jürgen Dollase bereits vor einiger Zeit zu anderen, neuen Ufern aufgebrochen. Die Art und Weise, auf die er dies tat, ist irgendwie auch ein bisschen einer „freaky nature“ geschuldet. Dollase hat sich der Küche ganz und gar verschrieben. Rüttelt an Essgewohnheiten. Bzw. bekämpft Bewusstseinsstörungen.

Collage "Currywurst leicht dekonstruiert" - Jürgen Dollase, "Geschmacksschule"

Collage "Currywurst leicht dekonstruiert" - Jürgen Dollase, "Geschmacksschule"

Und wie ist es nun beim „Kochbuchen“? Richtig, Jürgen Dollase weiß es: „Wenn man sich irgendwo auf die Suche nach Henne und Ei macht, findet man regelmäßig viele große Hennen und oft erstaunlich kleine Eier.“ (Jürgen Dollase, FAZ vom 01.12.2003, Link unten)

Die besten Dinge des Lebens sind zeitlos. Manche haben mit den Jahren schon Staub angesetzt und als ich es kürzlich erneut aus dem Regal mit Kochbüchern zog, musste ich zunächst einmal den Staub fortblasen. Dies gelang.

Vincent Klink sagt es in der unten verlinkten Sendung „Geschmack und Sinnlichkeit“, wie er mit Sinnlichkeit und im Gebrauch von Microsoft Word umzugehen habe, es klingt kritisch/nachdenklich, trifft aber die „Berliner Schule“ von gesichtspunkte.de, mit dem Office-Korrekturprogramm den Sinn des Lebens insgesamt in Frage zu stellen:

„Wenn man im Wordprogramm mit der rechten Maustaste das Wort „Sinnlichkeit“ anklickt, dann kommt Hurerei, nur die schlimmsten Sachen, es kommt überhaupt nichts Schönes, und das ist natürlich fatal für das, was wir als Lebensglück anstreben.“ Vincent Klink (zur Person hier)

Ich habe die „Geschmacksschule“ schon seit ein paar Jahren herumstehen, das ist ein Buch, von dem ich ursprünglich meinte, es sei eine Art Kochbuch. Deswegen steht es in diesem Regal. Wenn ich genau überlege, muss es 2005 gewesen sein. Das Buch war gerade neu erschienen. Der Modus vivendi dieses Buchs ist allerdings nicht, technische Betriebsanleitung zu sein und Gerätevielfalt in der Gebrauchsküche zu stärken. Dollases Anleitung zum glücklich sein ist eher wie eine spätere Überarbeitung früherer Drogenerfahrungen von ihm, die Dollase, erwachsen geworden,  mit anderen Mitteln fortsetzt: als Löffelpapst.

Eine besondere Idee hierfür sind seine „Geschmacksgraphiken“, welche die subjektiv erlebte Intensität von Menübestandteilen anhand von Verlaufskurven in einem Diagramm nachzeichnen.[1] Sein Zugang zur Welt der Kochkunst ist betont analytisch, gewissermaßen eine chemische Analyse der subjektiv erlebten Geschmackskomponenten. Zur Erläuterung der Geschmackserlebnisse verwendet er gern den Begriff der „Textur“ anstelle des gebräuchlicheren Mundgefühls, womit er die physikalischen Aggregat-Zustände und weitere grundlegende materielle Eigenschaften der Speisen während des Essens betont: hart, weich, zäh [Viskosität], brüchig [kross] usw. (aus wikipedia)

Das ganze Buch über illustriert sich Seite für Seite in dem Buch als Löffelexperiment. Das Ziel: den ultimativen Geschmackslöffel zusammenzustellen. Womit dann eins klar ist: Es geht nicht darum, den Leser satt zu bekommen. Es geht darum, minimalistisch und durch gezielte Bestückung mit den richtigen Zutaten den einen „one and only“ Geschmackslöffel hinzudrapieren, der uns alle Sinne und Geschmacksknospen öffnet.  Gourmettechnisch „erste Sahne“, sozusagen.

Rein, lecker…oder nicht lecker, so fasst Dollase zusammen, was wir vom Essen in Erinnerung behalten. Es sei nicht vorgesehen, dass wir da einmal genauer hinschmecken.

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WALLENSTEIN Blitzkrieg 02 The Theme 1971 (via Youtube)

Was fürs Geschmäckle gilt, machte Wallenstein bspw. 1971 schon geltend, mit Jürgen Dollase als Keyboarder. Darüber heißt es bspw. „Die Musik von Wallenstein ist einmalig. Es gelingt ihnen, eine Synthese von reiner, melodischer Musik und hartem, brutalem Rock und unfassbaren, an Wahnsinn grenzenden Empfindungen zu finden.“ (französische Popzeitschrift BEST über Wallenstein)

Zum Beispiel mit Blutwurst tut er es, weil Blutwurst unterschätzt ist. Am weiteren Beispiel Currywurst (Abbildung und Textbeispiel oben) gelingt ihm das genauso mit Finesse, wie mit einem Stück Matjeshappen, einem schwarzen Stück Pumpernickel und mit Fischrogen. Das Buch zu lesen ist eine spirituelle Erfahrung, die ihresgleichen sucht. Hinterher denkt man nach darüber, was man alles nicht gewusst hat. Bzw. was einem so auf diese nachdrückliche, beeindruckende Art und Weise noch gar nicht bewusst gewesen war. Kulinarische Intelligenz, so auch der Titel eines anderen Buchs von Dollase, back to the roots und das auf ziemlich hohem Niveau. Ein echter Mehrwert.

Bleibt vielleicht noch, ein philosophisches Fazit zu ziehen. So wie Jürgen Dollase in der Sendung „Geschmack und Sinnlichkeit“ subsummiert, auszugsweise: „Wir können das sogar sozial verkoppeln. Wir können jederzeit eine Strecke ziehen von dem sensiblen Umgang mit Essen bis zu einem sensiblen Umgang mit unserer Umwelt. Viele Probleme wären nicht da, wenn wir eine Art kulinarische Moral hätten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

 Weblotse

(EP)

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