1354/11: Personen: Rainald Grebe besitzt einen unverstellten Blick „Menschen und Wahlen 2011“! Er ist unser „Berliner des Tages“

Rainald Grebe & die Kapelle der Versöhnung!

Banner Fotocredits(danke, Jim Rakete, für die Genehmigung)

Das Essen spielt eine immer größere Rolle. Sich über Ökologie zu definieren war früher eher links und schrullig, genau wie der Hang zu vegetarischem Essen. In den achtziger Jahren galt das als eine Sache für Spinner. Öko-Interessierte erkannte man an handgestrickten, etwas formlosen Pullovern. Die Verkäuferin im Bioladen war aus Prinzip unfreundlich, hatte kurze Haare und eine lila Latzhose. Heute ist Ökologie Lifestyle, der Bioladen ist in der Marktwirtschaft angekommen und hat auch Tiefkühlpizza. 20-Jährige diskutieren darüber, ob vegetarische oder vegane Ernährung besser ist. (Rainald Grebe im Gespräch mit brandeins, Link unten)

Wer Texte über schwierige Zusammenhänge schreibt, sollte sich mit Anerkenntnis und Lob zurückhalten. Wer es für Dritte, Leser, tut, erst recht. Denn das für etwas eingenommen sein hat Haken und Ösen. Außerdem erscheint es einem erstens unbillig und offensichtlich. Denn das anerkennende Lob wird dem Leser entgegenspringen und ihn sogleich auffressen. Zweitens hat alles, was Anerkennung verdient, auch unbekannte, andersartige Facetten. Hatte der Gelobte eine widerwärtige Kindheit? Hat er einmal Bonbons im Supermarkt gestohlen oder mit 10 Jahren eingenässt? Ein Bettnässer? Also Nestbeschmutzer.

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Ehrlich gesagt, ist mir dies Wurscht oder -vegetarisch korrekt ausgedrückt: Es ist mir Banane. Um die Welt überhaupt für sich selbst begreiflich zu machen, müssen wir in Trickkisten greifen. Denn niemand hat ein so großes und tolerantes Herz, als dass er die zuweilen skurrile Welt begreifen könnte, ohne gleichzeitig an ihr zu verzweifeln. Oder sie sich ein Stück weit einfacher zu stricken, als sie in all ihren Verästelungen wirklich ist. Niemand kann ohne Schwierigkeiten noch eben „mal die Welt retten“. Auch Rainald Grebe nicht.

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Tim Bendzko – Nur Noch Kurz Die Welt Retten (Official Video) (via Youtube)

Das politische Kabarett mochte ich nie, das hat immer sowas Besserwisserisches, die Leute ziehen sich selbst nie in Zweifel. Ich bin da ganz anders, ich bin oft so zerbröselt und weiß nicht, was ich für eine Meinung haben soll. Auf der anderen Seite bin ich immer Info-Junkie gewesen, ich weiß genau, wie die alle heißen, wer der Staatssekretär ist. Ich schau auf Phoenix Bundestagsdebatten an. Aber es reicht nicht zu einer eigenen Haltung. (Rainald Grebe – Ich bin ihr Kandidat – Berliner Zeitung, Link unten)

Rainald Grebe fasst sich selbst als „teilnehmender Beobachter“ in ihr auf. Allein im Kämmerlein, etwas später dann, macht er sich über die Welt her, wie sie ist, bzw. wie sie ihm erscheint. Dann kann es passieren, dass er zum scharfzüngigen Zyniker wird oder zum bekennenden Fatalist fatal. Das kennen wir nun schon seit „Brandenburg“, besser hätte Brandenburg niemand beschreiben können. Bis heute darf er dort auch auftreten. Eine Hassliebe?Mein Beruf ist es, meine Zweifel in Lieder zu gießen. Das Gegenteil von dem, was ein Politiker macht.

Da geht es darum zu sagen: So wird’s gemacht! Ich finde aber! Das ist doch eindeutig! Was ich immer wieder faszinierend fand: Man unterhält sich mit der CDU, mit der SPD, mit den Linken, und nach jedem Gespräch denke ich: Der hat doch recht.  #Grebes Relativitätstheorie (Rainald Grebe – Ich bin ihr Kandidat – Berliner Zeitung, Link unten)

„Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell.“ Dieser Gedanke von Rainald Grebe ist mir bestens vertraut. Schon seit Jahren. Ich habe „diese Szene“ einst in Berlin-Schöneberg ausgemacht: am Winterfeldplatz auf dem wöchentlichen Winterfeldmarkt. Und bin schon seit längerem nicht mehr dort gewesen. Individualismus ist ein positiv besetzter Begriff. Ihn leben die nach persönlichem Fortkommen streben, Rainald Grebe zufolge nicht ohne innere Widersprüche.Wie aber wird der Mensch zum gemeinschaftstauglichen Apparatschik, der sich sozial (besser) einfügt, also sozial konformer?

Eine Antwort darauf hat ein ehrlicher Rainald Grebe eben nicht. Denn er muss nicht die Welt retten, eher noch verzweifelt er an ihr. Die sind jetzt alle nachgewachsen, nach der Generation der 68iger, von Punk, Rock und New Wave kommt jetzt die nächste Lebensphase der Moderne: erwachsen geworden zu sein, es ist ein neu definiertes Bürgertum, allerdings auch nicht viel mehr als ein gemischter Mix aus allem Vormaligen. Eventuell.

Bürgertum hat viel mit Angst und Abgrenzung zu tun. Dass die Dinge des alltäglichen Bedarfs so einen Stellenwert bekommen, ob es die Manufactum-verschönerte Wohnung ist oder die ökologisch korrekte Ernährung, das hat etwas Biedermeierliches. Man demonstriert Geschmackssicherheit. Man redet weniger über politische Zusammenhänge, man redet lieber über die Inneneinrichtung und das Essen und garniert das dann ideologisch. (Rainald Grebe im Gespräch mit brandeins, Link unten)

Zugleich erfahren wir etwas über verschiedene deutsche Lebensstile: Der Freiburger Lebensstil beispielsweise ist „schwarz-grün, selbstverständlich ökologisch bewusst und außen hermetisch abgeschlossen.

„Eine Freundin von mir, alleinerziehende Mutter mit wenig Geld, lebt am Prenzlauer Berg. Sie spricht immer von diesem „Kleiderdruck“. Sie merkt, dass sie hier nicht reinpasst. Die anderen wissen offenbar ganz genau, wie man sich anzuziehen hat: betont nachlässig, aber doch sehr geschmackvoll und genau gewählt. (Rainald Grebe im Gespräch mit brandeins, Link unten)

In dieser Art Beschreibungen der „normalen Totale“ besitzt Rainald Grebe wie nur wenige andere „einen unverstellten Blick auf das Gewöhnliche“, auf das Absurde, Lächerliche und gibt es der Öffentlichkeit preis. Dafür ist er mein „Berliner des Tages“.

Ein anderer Bekannter von mir, aus der Besetzerszene, ist bei der Bergpartei in Friedrichshain. Der sagt, das ist mein Kiez, Friedrichshain, da bin ich seit 20 Jahren, da geh ich auch nicht weg. Deshalb engagiert er sich. So eine Haftung hab ich nicht. Ich könnte schon deswegen in keinen Ortsverband gehen, weil ich denke, ich zieh nächstes Jahr sowieso wieder weg. (Rainald Grebe – Ich bin ihr Kandidat – Berliner Zeitung, Link unten)

Denn es bleibt schwierig, sich zu irgendetwas Nützlichem zu bekennen, denn zu was denn? Wenn dir die Surrelität des Absurden ins Auge springt, wirst du noch schweigen können? Weil man das nicht sagt, es nicht benennt? Rainald Grebe benennt es im Interview so und das ist der Gipfel davon, der Schlusspunkt: „Das sind Leute, die in ihrer Freizeit vielleicht Tango tanzen.“ Wir werden also zu überlegen haben, was es bedeutet, den argentinischen Tango zu zelebrieren. Man wird damit schon verdächtig.

Richtig, man muss sich die Welt vereinfachen, sie katalogisieren und sie dann in Kategorien einteilen. Sonst ist es unmöglich, sie zu verstehen. Wie denn auch? Überall schwappen Meinungen herum und jeder hat noch was zu sagen. Bekenntnisse haben sie, wofür sie sind und darin sind sie sich einig: Es gibt diese Dinge, die man tun darf, weil sie anerkannt sind und auch dem „Individualisten“ gestattet werden. Sie sind konsensfähig. Nach diesem „Gesetz der individuellen Masse“ haben Abweichler allerdings Ausgrenzung zu befürchten: Das ist die Studentin von Rainald Grebe, die diesen unliebsamen „Kleiderdruck“ spürt. Ach herrje.

Salto Mortale zurück zur gesellschaftlichen „normalen Totale“ (siehe oben), wenn Rainald Grebe sagt:

Ja, scheiße. Man will ja der Einzige sein. Das ist wie auf Safari. Man würde jetzt gerne das einzigartige Naturerlebnis haben, aber dann stehen schon acht Jeeps da, und alle fotografieren die gleichen Antilopen. Eine ganze Kneipe voller Schauspieler, die sich gegenseitig belauern – da ahnt man kurz die eigene Überflüssigkeit und ist froh, wenn man sich auch mal mit einem Krankenpfleger unterhalten kann. (Rainald Grebe im Gespräch mit brandeins, Link unten)

Der bekennende Fatalismus des Rainald Grebe hat eigentlich kaum Folgen. Die Denkstärke seiner Gedanken ist die treibende Blüte der Solidarisierung. In unserer Ratlosigkeit, welche Partei man überhaupt noch wählen könnte, hat Rainald Grebe auch dafür noch die richtigen Worte. So ergeht es einem beim genaueren Studieren des Artikels „Ich bin ihr Kandidat – Überlegungen zur Wahl“ in der Berliner Zeitung, Onlineausgabe vom 27.08.2011, aufgeschrieben für Rainald Grebe von Petra Ahne.

Der diesjährige Wahlkampf ist wirklich schrecklich. Überall dominiert schwarz-weiß, der Mann namens Henkel (CDU) lächelt einem großformatig entgegen und hat „100 goldene Regeln“ aufgestellt, die keiner lesen will. Kandidat Wowereit (SPD) zehrt eigentlich nur von seinem Beliebtheitsbonus und richtig, vielmehr muss er eigentlich nicht sagen. Das unterstreichen die Fotos. Ärgerlich so Tempo 30-Schildplakate, wo der Autofahrer aufschrickt und denkt, ach ne, ein Wahlplakat. Dumm gelaufen. Ganz schlimm: Die sprachlichen Entgleisungen auf Wahlplakaten der FDP, wonach Mitarbeiter der Ordnungsämter offenbar zwangsumgesetzt werden sollen, um Hundekot und Schmierereien zu beseitigen. Ordnungsamt goes Berliner Stadtreinigung. Die Partei PIRATEN wirbt am ehesten noch mit einer allgemein gültigen Wahrheit: Informieren Sie sich! Genau!

FDP-Wahlplakat zur Berliner Wahl 2011

FDP-Wahlplakat zur Berliner Wahl 2011

Und die Wahlplakate – wenn man jetzt mal das Niveau da unten lässt, wo es ist, muss man sagen, die SPD hat die auffälligste Kampagne. Die haben gesagt: Pfeif auf Inhalte, wir machen einfach schöne Bilder. Und die anderen müssen sich halt anstrengen: Da müssen wir ran, da muss sich was ändern – die ganzen Sprüche. Aber was bringt uns das? (Rainald Grebe, aufgeschrieben von Petra Ahne, Berliner Zeitung, Link unten)

Na ja, und um hier nicht noch näher in ein anderswo geschriebenes Detail zu gehen, ist der Link hier unten. Lesenswert.

Ich hab auch Wahlprogramme gelesen, ich fand das von der APPD, der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands, eigentlich am besten. Die wollen Plüsch auf Fahrradwegen, und die Einteilung von Berlin in drei Sektoren. Das ist natürlich ein Spaßprogramm, aber sehr konkret für Berlin. (Rainald Grebe, aufgeschrieben von Petra Ahne, Berliner Zeitung, Link unten)

Alles in allem hat der Mann „einen glasklaren Verstand“ und ich würde jederzeit mit ihm eine ganz neue Partei gründen: eventuell die „Kapelle der nationalen Versöhnung“, und was die Namensgebung angeht, bin ich weiterhin gern ergebnisoffen. So wie die immer wieder guten und scharfen Blicke eines Rainald Grebe es einem gebieten. Großartig, danke, Rainald, du machst das schon: für uns.

Ich geh jetzt schnell die Welt retten…

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