Briefe aus dem Untergrund: Ein Stalker berichtet seinem Auftraggeber

Briefe aus dem Untergrund

Briefe aus dem Untergrund

Lieber Auftraggeber,

vereinbarungsgemäß berichte ich weiter bezgl. meines Auftrags auf Stalking und fortgesetzte Beobachtung unseres Zielobjekts und dessen gesamter Familie.

Unser Versuch, vermittels einer Videokameraeinrichtung das gesamte öffentliche Straßenland rund um die Uhr aufzuzeichnen und so ein gezieltes Bewegungsprofil unseres Zielobjekts zu erarbeiten, das lückenlos ist, kann als ‚zunehmend verwässert‘ und in Frage gestellt angesehen werden. Mit der Kamera bekomme ich oben aus dem Dachgeschoss leider nicht den richtigen Winkel eingestellt. Schon der Bürgersteig vor dem Haus lässt sich nicht aufzeichnen. Ich habe sicherheitshalber und wegen der vereinbarten Diskretion der gesamten Maßnahme keine Warnschilder vor dem Haus aufgestellt, mit dem vorbeilaufende Passanten auf eine ständige Videoüberwachung des Straßenlandes hingewiesen werden. Ich kann noch berichten, dass die Polizei schon mehrmals da war, weil ich das erfolgreich ausgelöst habe. Allerdings hat die Polizei, das haben meine Recherchen ergeben, eine Art dienstlichen Datenschutz zu beachten, den ich als positiv in unserem Auftragssinn an Sie weitergeben kann. Ohne richterliche Anordnung läuft da nichts. Gut für uns.

***

Unser Zielobjekt ist seit Wochen nicht mehr zuverlässig zu erfassen und hat die Kamera schnell entdeckt. Bis auf einige Male, wo er sich offenbar gezielt auf die Straße vor dem Haus gestellt hat, um Fotografien von meiner Leihkamera anzufertigen, mit einem Teleobjektiv. In den letzten Tagen stellen sich immer wieder die vier Kinder des Zielobjekts sehr gut sichtbar vor mein Objektiv, um der Videokamera die Zunge herauszustrecken. Auf eine Beleidigungsanzeige bei der Polizei habe ich im Interesse der Diskretion verzichtet.

Mein Auftrag, Ihre Tochter zu schützen, kann hingegen als erfolgreich bezeichnet werden. Vereinbarungsgemäß verhält sie sich immer, wenn ich da bin, wie eine gewöhnlich Wohnende, zieht Rollläden, Markisen und Jalousien auf und zeigt sich provokativ normal. Ihre Tochter hat mir berichtet, dass sie im Falle meiner Abwesenheit sehr unter den Zielobjekten leidet, die direkt unter ihr wohnen und sich regelwidrig auch offensiv im eigenen Garten zeigen, auf der Terrasse offene Gespräche führen und sogar mal ein Glas Wein verkosten. Sie sagt, wenn sie an denen auf der Straße vorbeilaufen muss, was manchmal unvermeidlich ist, schnürt es ihr den Hals zu, sie bekommt dann nicht ausreichend Luft und muss krampfartig husten. Hier kann ich nur behilflich sein, wenn mein Auftrag noch erheblich ausgeweitet wird.

Leider kann ich aus technischen Gründen diese Art eines nicht akzeptierten Auftretens (regelmäßiger Aufenthalt der Erdgeschossbewohner in ihrem Garten, siehe oben) kaum dokumentieren. In einem weiteren Bericht werde ich zu den weiteren technischen Maßnahmen, die über die Videoüberwachung vereinbarungsgemäß weit hinausgehen, noch einmal -wunschgemäß- berichten. Leider ist es mir auch noch nicht gelungen, in das Computernetzwerk unseres Zielobjekts einzudringen. Mein Freund, der Hacker, konnte hier noch nicht den entscheidenden Code knacken.

Ich möchte noch eine Warnung mitteilen: Ich habe in Erfahrung bringen können, dass derartige Aufzeichnungen vielleicht doch nicht verwendet werden dürfen, weil eine derartige Datensammlung über unser Zielobjekt Strafanzeigen und die Nichtverwertbarkeit des gesamten zugrunde liegenden Datenmaterials nach sich ziehen könnten. Bitte lassen Sie das noch einmal durch eine der zwei gut bezahlten Anwaltskanzleien rechtsverbindlich prüfen, die von Ihnen mit dem parallel laufenden Verbund mehrerer Zermürbungs- und Zerrüttungsklagen gegen das Zielobjekt beauftragt sind.

Ich bin vor diesem Hintergrund weiterhin auf ständige Anwesenheit im Zweifamilienhaus-Dachgeschoss dringend angewiesen. Vereinbarungsgemäß werde ich die gearbeiteten Stunden in den nächsten Tagen noch einmal abrechnen und einen weiteren Vorschuss auf meine erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen betreffend das Zielobjekt zur Zahlung fällig stellen. Sie können mir das Geld aber nicht überweisen, da ich kein Konto mehr besitzen darf und auch der Zahlungsfluss streng vertraulich bleiben muss. Vereinbarungsgemäß habe ich dem Zielobjekt bereits brieflich mitgeteilt, dass ich wegen meines Auftrags jetzt keine Rücksicht auf die noch verbliebenen familiären Bindungen unseres Zielobjekts nehmen werde.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr ergebener

Hans Mett-Wurst
P.S.: Das mit der verabredeten Punkmusik-Nerverei ist leider zu schnell abgebrochen worden. Unser Zielobjekt hat die Polizei geholt. Außerdem wurde hier darüber eingehend berichtet. Ich habe intensiv gegoogelt und festgestellt, dass die Plattenverkäufe der Politband Ton, Steine, Scherben seit den Berichten massiv angestiegen sein sollen. Auch die Website der Rio-Reiser-Stiftung verzeichnet starke Zugriffe. Ob diese Randerscheinungen Ausdruck von Sympathie für die Berichte über unseren gemeinsamen Auftrag sind oder ob sie von der dazu kritischen Berichterstattung in den Multimedien herrühren, ist noch nicht verbindlich zu sagen. Diese Art Öffentlichkeit schadet nach hiesiger Einschätzung unserem Auftrag und erfordert daher weitere Kostenvorschüsse, damit ich die Bearbeitung unseres Zielobjekts massiv verstärken kann. Anderenfalls müsste ich den Zeitrahmen stark eingrenzen, da ich den Gesamterfolg der Maßnahme in diesem Falle nicht sicherstellen kann. Gestern Abend habe ich den Auftrag daher vorzeitig abgebrochen und bin nach Hause gefahren, um erst einmal diesen Kurzbericht für Sie zu tippen. Denn es war nicht mehr zu erwarten, dass die Überwachung des Zielobjekts noch neue Kenntnisse zeitigt. Unser Zielobjekt ist erkennbar abends eingeschlafen einschl. Ehefrau. Lässt sich über das Salär noch einmal nachverhandeln?

2 Gedanken zu „Briefe aus dem Untergrund: Ein Stalker berichtet seinem Auftraggeber

  1. Pingback: 614/2010: Lied des Tages: Ich bau dir ein Haus aus Schweinskopfsülze (Die Doofen) | gesichtspunkte.de – Hier bloggt der Verwalter…

  2. Pingback: 1097/11: Zitat des Tages: Wo ist man wirklich zuhause? Christian Morgenstern weiß die Antwort?

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.